Hesmats Flucht
Atem ging leise und sanft, als wären die Flecken auf ihrer Lunge plötzlich verschwunden. Wieder klammerte sich Hesmat an die Hoffnung auf ein Wunder.
Sein Bruder war unruhig, und als er zurückkam, ging er, um die Mutter nicht zu wecken, zum Spielen mit ihm auf die Straße.
Er beobachtete seinen Bruder, der in der Hitze und dem Staub gerade eine alte Holzkiste zerlegte, als sie die Schreie hörten. Er stürmte ins Zimmer und sah, wie sein Vater über die Mutter gebeugt weinte und seine schreiende Tante verloren in einer Zimmerecke stand.
Die Verwandten versammelten sich im Haus und sprachen seinem Vater ihr Beileid aus. Sie umarmten und küssten Hesmats kleinen Bruder, schüttelten ihre Köpfe und sprachen über seine Mutter wie über eine Heilige, während sie Hesmat, der neben seiner Mutter kniete und ihre tote, fremd gewordene Hand hielt, nicht beachteten.
Als sie schließlich kamen, um sie abzuholen, klammerte er sich mit aller Gewalt an seine tote Mutter, aber seine kleinen Hände konnten nichts gegen die Hände ausrichten, die ihm seine Mutter wegnahmen. Er schrie und biss jeden, der ihm zu nahe kam, bis ihn ein Onkel von seiner Mutter wegriss und den spuckenden, schreienden Jungen aus dem Haus trug und ins Auto sperrte. Der Zorn, die Trauer und Verzweiflung nahmen ihm die Kraft, seine Fäuste konnten nichts gegen die Scheiben des Jeeps ausrichten. Er vergrub sein Gesicht in einem der Autositze und ließ seinen Tränen freien Lauf. Als ihn sein Onkel wieder aus dem Auto holte, war seine Mutter verschwunden.
Er erfuhr nie, wo seine Mutter begraben wurde.
»Erst wenn du alt und stark genug bist, den Schmerz zu ertragen, werde ich es dir zeigen«, sagte sein Vater.
Er wusste, dass es üblich war, Kindern die Grabstellen ihrer Eltern nicht zu zeigen. Sie sollten ihre toten Eltern nicht unter ein paar Steinen, die auf die Toten gelegt wurden, auf dem harten Boden verfaulen sehen, nicht sehen, wie die streunenden Hunde schon nach ein paar Tagen Teile und Fetzen wegtrugen.
»Aber sie ist doch meine Mutter«, weinte Hesmat, als sein Vater wortlos das Zimmer verließ.
»Sei stark«, hatte er gesagt.
»Das ist es, glaube ich, was ich am öftesten von meinem Vater gehört habe«, erzählte Hesmat seinem Freund, »dieses: Sei stark! Immer sollte ich stark sein, aber ich habe es fast nie geschafft!«
Fahid hatte schweigend zugehört, während Hesmat vom Tod seiner Mutter erzählt hatte, und er weinte nun mit ihm, als Hesmat mit den Tränen kämpfte. Dann versuchte er, seinen Freund auf andere Gedanken zu bringen. Wie immer wenn Fahid nicht wusste, was er am besten tun sollte, begann er, von der Zukunft zu reden. Davon, was er in Frankreich alles erreichen würde, davon, dass Hesmat bei ihm bleiben könnte und sie Frankreich »erobern« würden. Immer wieder blickten sie über den Fluss nach Afghanistan hinüber. Ein Land, das so vielen Menschen so viel genommen hatte und doch so einzigartig und auch so wunderschön sein konnte.
»Was hätten wir nicht alles in unserer alten Heimat werden können«, sagte Fahid, »hätten die Alten nur einmal ihren Kopf und nicht immer nur den Abzug ihrer Waffen benutzt!«
Er saß tatsächlich auf dieser Seite des Flusses und schmiedete Pläne für seine Zukunft. Wie oft hatte Hesmat daran gezweifelt, es überhaupt bis hierher zu schaffen. Wie oft hatte er in den Bergen gefroren und sich gefürchtet. Schließlich blieb der Entschluss, nie wieder einen Gedanken ans Aufgeben zu verschwenden. Er würde nie wieder dorthin zurückkehren. Er konnte nicht aufgeben. Die Brücke der Freundschaft war in seinem Kopf schon lange gesprengt worden.
»Lass uns gehen«, sagte Hesmat, »hier haben wir nichts mehr verloren.«
WERTLOS WIE EINE LÄSTIGE STECHMÜCKE
»Warum kann ich plötzlich nicht mehr in das Versteck?«, protestierte Hesmat.
Endlich hatte es geklappt und jetzt sollten sie sich für das letzte Stück plötzlich nicht mehr in dieses Loch unter der Liegefläche quetschen?
Bis hier hatten sie alle Kontrollen überstanden, die Hunde hatten sie nicht gefunden, die Stimmen der Kontrolleure waren gekommen und wieder gegangen und Moskau war nur noch zwei Tage entfernt.
»Aber warum?«, fragte Fahid.
»Ich habe keine Lust, mit euch zu diskutieren«, sagte der Schaffner. »Entweder ihr macht, was ich euch sage, oder sie werden euch eben wieder schnappen.«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Ihr glaubt wohl, jemand wie ich macht Scherze?«
»Wenn er uns loswerden will, bräuchte er
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