Hesmats Flucht
selbst ein gutes Paar!«, hatte sie zu Hesmat gesagt.
Sie hatten kurz überlegt, was sie mit dem toten Jungen machen sollten. Wenn ihn jemand bei den Kontrollen finden würde, bedeutete das Probleme für alle, und so war der Entschluss schnell gefasst. Schneller, als Hesmat denken konnte. Schneller, als er verstand, warum sie das Fenster plötzlich geöffnet hatten. Schneller, als Hesmat reagieren konnte. Schneller, als er es begriff. Zwei Minuten, ein Handgriff, und dem Toten war jede Würde genommen.
Die anderen waren längst verschwunden. Er war allein mit dem Schaffner. Auch die Frau mit Fahids Schuhen war längst ausgestiegen. Zusammen mit den Zeugen, die nichts gesehen hatten und doch alle dabei gewesen waren. Der Schaffner hatte seine Hand auf Hesmats Schulter gelegt. Dieselbe Hand, die ihn vor zwei Tagen zurückgehalten hatte, den Männern in die Arme zu fallen; die Hand, die ihn gehindert hatte, seinem Freund ein würdiges Grab zu bauen, die Steine um seinen Körper zu legen und an seinem Grab zu beten. Dieselben Hände, die ihn von Fahid fortgerissen hatten, lagen jetzt friedlich und
tröstend auf seinen Schultern. Dann kam der Mann, von dem ihm der Schaffner erzählt hatte.
»Du bist alleine?«
Hesmat nickte.
»Dann komm jetzt, wir haben nicht viel Zeit«, sagte der Fremde, der sich zu ihm gesetzt hatte. »Halte dich an mich.«
»Viel Glück«, sagte der Schaffner, bevor er sich umdrehte und verschwand. Auch auf ihn wartete der Alltag; warteten die nächsten Menschen, die sich in seinen Verstecken einem besserem Leben entgegenzittern würden; warteten Menschen, die ihren Traum vielleicht mit demselben Preis bezahlen mussten wie Fahid. Warteten Menschen, auf die niemand mehr wartete; Menschen, die niemandem fehlten. Menschen, auf deren Gräbern keine Namen stehen würden, falls es überhaupt Gräber für sie geben würde.
»Bachtabat schickt mich«, sagte der Fremde und begleitete ihn aus dem Zug, aus dem Bahnhof hinaus in ein Auto, das eigentlich auf Hesmat und Fahid wartete.
»Es ist schwer«, sagte der Fremde. »Sei froh, dass du überlebt hast.«
Die Lichter der Stadt verschwammen vor seinen Augen, er presste sie zusammen und weinte still. Der Fremde brachte ihn in eine Wohnung und gab ihm etwas Suppe. Das Wasser in der warmen Dusche rann über seinen Körper. Sein Körper lebte. Er war wie eine Maschine, die aus Gewohnheit weiterarbeitete. Er atmete, er aß. Er schlief und öffnete die Augen. Er sog Luft in seine Lungen. Alles war, wie es immer war. Wie konnten Menschen nur so grausam sein? Wie konnte Gott so etwas zulassen?
Es vergingen Tage, in denen Hesmat schlief, aufwachte und wieder schlief. Die blauen Flecken an seinen Handgelenken
und seiner Brust verfärbten sich grünlich gelb, verschwanden. Er hatte nicht die Kraft, mit Hanif zu telefonieren, und er verschob es auf später.
Irgendwann nahm ihn der fremde Mann an der Hand. »Steh auf, wir müssen los. Der Zug wartet.« Er ging mit ihm zum Bahnhof, setzte sich neben den fremden Jungen, der nichts sprach. Der Zug setzte sich in Bewegung, durchschnitt die grünen Ebenen, rollte an Siedlungen und Fabriken vorbei, und noch immer starrte Hesmat wortlos aus dem Fenster. Es gab keine Kontrollen, keine Probleme. Als der Zug sich durch immer engere Häuserschluchten presste und die Menschen ihre Sachen von den Gepäckablagen hoben, um auszusteigen, verstand er, dass er in Moskau war.
Mit offenem Mund stand er auf dem Bahnsteig und starrte in Hunderte Lampen, die die Halle erhellten. Unzählige Menschen drängten sich an ihm vorbei. Er stand in diesem Menschenmeer und ließ sich treiben. Die Woge spülte ihn fort, bis ihn die Hand des Fremden rettete. Über einen Tag war er schweigend neben Hesmat gesessen und hatte keine einzige Frage gestellt, er war nur da gewesen. Still und ruhig wie ein Engel, der ihn schützte. Er hatte ihm in der Wohnung die Haare geschnitten, neue Kleider gegeben, ihm einen kleinen Rucksack geschenkt. Er hatte ihn an der Hand genommen und bis Moskau nicht aus den Augen gelassen. Jetzt stand er neben ihm und blickte mit ihm in den künstlichen Sternenhimmel an der Decke des Bahnhofs.
»Ist schon verrückt, oder?«, sagte er und blinzelte in die Lichter. »Komm, wir müssen weiter. Wir fallen sonst auf.«
SAYYID
»Zum Markt der Afghanen« war das Erste, was Hesmat am Bahnhof sagte. »Ich muss dorthin, dort gibt es Leute, die mir helfen werden.«
Der Fremde schien zu wissen, wovon er sprach, und organisierte ein
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