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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Taxi.
    Moskau erschlug ihn mit seinen Reizen. Die Stadt war so unglaublich schön und riesig, so unglaublich anders als alles, was Hesmat bisher gesehen hatte. Die hohen Türme der Kirchen stießen in die Wolken wie die Bergspitzen des Hindukusch, die Menschen trugen Anzüge und glänzende Taschen. Viele hielten sich tragbare Telefone ans Ohr und sprachen in den Straßenlärm. Hinter riesigen Glasscheiben und Schaufenstern lagerten Schätze, deren Namen Hesmat nicht einmal kannte. Aus dem Autoradio drang Musik, die er noch nie in seinem Leben gehört hatte. Er hatte keine Zeit für Fragen an seinen Begleiter, mit jeder Frage drängten sich drei neue auf, und mit jedem Blick entdeckte er Dinge, die ihm fremd waren. Sogar die Luft in dieser Stadt war eine andere. Es war der Geruch der Freiheit, der Geruch seines neuen Lebens.
    »Es stinkt«, sagte sein Begleiter, »mach das Fenster zu.«

    »Scheißsmog«, sagte der Fahrer.
    Hesmat wusste nicht, wovon sie sprachen.
    Der Markt war riesig, ungleich viel größer als alle Märkte, die er kannte, und er fragte sich, wo er mit der Suche beginnen sollte. Schließlich stellte er sich auf die Zehenspitzen und sah sich um. Blaue Abdeckplanen, Tausende Köpfe verstellten ihm die Sicht. Sie alle schoben sich in eine Richtung vorwärts, hatten ein Ziel. Nur Hesmat und sein Begleiter standen ihnen wie Steine in der Strömung im Weg. Die Menschenwelle spülte sie vorbei an Hunderten kleinen Ständen, von denen einer aussah wie der nächste. Vorbei an Lebensmitteln, Kleidern, Fernsehgeräten, Telefonen und Gewürzen, Hühnern und Singvögeln, Tabak und Alkohol. Vorbei an Menschen, die wie Afghanen aussahen, aber gekleidet waren wie Europäer, und mit jedem Schritt hörte Hesmat neue Sprachen, roch fremde Gerüche, sah Hinweisschilder, die von Dingen sprachen und Dinge verboten, die er nicht kannte.
    Wie sollte er hier jemanden finden? Tuffon hatte ihm nicht gesagt, dass der Markt eine eigene Stadt war. Er kannte nur die Märkte in Mazar und dachte, das seien die größten, die es gebe. Aber hier, hier drehte sich eine ganze Welt, die nur aus Markthütten, Zelten und Ständen bestand. Sein Begleiter führte ihn schließlich in eine Sackgasse am Rand des Markts.
    »So hat das keinen Sinn«, sagte er. »Wir warten, bis sich der Trubel gelegt hat.«
    Dann war er losgegangen, um ihnen etwas zu essen zu kaufen. Hesmat blieb alleine zurück und starrte auf die Massen, die sich an ihm vorbeischoben.
    »Tuffon! Wer von euch kennt Tuffon aus Mazar?« Ihre Stimmen unterschieden sich kaum von den Stimmen der Verkäufer,
die den ganzen Tag über lautstark ihre Waren angepriesen hatten. Jetzt waren die Stimmen der Verkäufer verstummt, und sie blickten, ein Glas Tee in den Händen, neugierig den zwei Fremden nach, die schreiend zwischen den Ständen nach jemandem suchten. Die Verkäufer bereiteten sich auf die Nacht vor, die kalt werden würde, obwohl es August war. Eine weitere Nacht unter den Planen, die am Tag ihre Waren, in der Nacht ihren Körper schützten, und unter denen sie von einem besseren Leben in einem warmen Zimmer träumten. Neidisch blickten sie auf jene, die ihre Waren in Kastenwagen stapelten und in ihre Wohnungen fuhren.
    Viele von ihnen waren hergekommen, um reich zu werden, aber nur für wenige war der Traum wahr geworden. Über die Jahre waren immer mehr gekommen und der Markt wuchs nach wie vor täglich. Die Nachfrage war groß, aber das Angebot wuchs beinahe stündlich. Ihre Gewinne fielen ständig und so begruben täglich mehr Händler ihren Traum vom Wohlstand zusammen mit ihren Waren unter den Planen. Sie schüttelten den Kopf.
    »Wieder zwei, die vom großen Glück träumen«, flüsterten sie sich zu und drehten sich weg. Wieder zwei, die uns Geld und Kunden wegnehmen werden, dachten sie insgeheim.
    Wie lange hatte er nichts mehr von Tuffon gehört? Mit dem Wind, der ihm den Namen des Freundes ans Ohr trug, kam die Erinnerung. Sayyid hob kurz den Kopf, lauschte. Nichts. Er musste sich getäuscht haben. Tuffon, sein guter alter Freund. Mit dem Namen kamen die Erinnerungen an zu Hause, an Afghanistan. Der Großhändler bückte sich und arbeitete weiter, während sich ein warmes Gefühl in seiner Brust ausbreitete.
    »Tuffon, du alter Freund, wie geht es dir wohl?«, gab er dem Wind zurück.

    Wieder glaubte er, den Namen seines Freundes zu hören. Wieder hielt er inne.
    »Seid still!«, schimpfte er mit den Frauen, die um ihn herum schnatterten. Wie ein Hund, der

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