Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
Vom Netzwerk:
Vater gehört hatte: »Du glaubst zehnmal, dass du etwas nicht überlebst, bis du am nächsten Tag wieder aufstehst und den Kopf darüber schüttelst.«
    Hesmat musste sich in eine Holzkiste legen, die der Schaffner zunagelte, unter eine der Sitzbänke schob und die Blechblende davor wieder anbrachte. Das ganze Abteil hatte ihm wortlos bei der Arbeit zugesehen.
    »Wenn jemand den Jungen verrät«, sagte er, »wird er gleich mit ihm aussteigen. Habt ihr verstanden?«
    Er zählte jede Sekunde und trug jede neu begonnene Minute auf einer imaginären Uhr in seinem Kopf ein, doch die Zeit schien stillzustehen. Trotzdem zählte er weiter, um sich abzulenken. Es war stickig, finster und er war wie taub. Als hätte man ihm Augen und Ohren genommen. Die Stimmen waren nur als dumpfes Murmeln zu vernehmen. Die Kiste glich einem Sarg. Er lag auf dem Rücken und hatte keine Chance, die Trinkflasche auf seinem Bauch zum Mund zu führen, und mit jeder Minute wurde die Luft dünner und die Hitze unerträglicher. Er konnte sich keinen Zentimeter bewegen und hätte nicht einmal mit den Fäusten gegen den Deckel klopfen können, so eng war es in diesem Sarg.
    Irgendwann spürte er seine Füße nicht mehr und bekam Panik. Es schnürte ihm die Kehle zu, er konnte nicht schreien. Schließlich begann er, mit dem Kopf gegen die Decke der Kiste zu schlagen, obwohl er wusste, dass niemand das Klopfen im fahrenden Zug hören würde. Er würde hier verrecken. Sein Puls und seine Atmung rasten. Er wusste, dass er so nur zusätzlich Luft verbrauchte. Er musste sich beruhigen. Um sich abzulenken, versuchte er wieder zu zählen. Jede Sekunde wurde zur Ewigkeit. Er dachte an die Beeren in Mazar, an den Markt.
Daran, was er sich jetzt mit dem Geld in seinem Gürtel dort kaufen könnte. Er legte in seiner Fantasie all die Sachen in eine Eselskarre und suchte dann den ganzen Markt nach Wasser ab, fand aber keines. Er stellte sich vor, wie er in den Fluss stieg und trank, bis ihm der Bauch schmerzte. Dazwischen weinte er, bis der Zug plötzlich ruckartig stehen blieb. Nichts passierte und er hörte nur weiter das dumpfe Murmeln. War das die Kontrolle?
    Als der Zug erneut anfuhr, fand er seine Stimme wieder und schrie: »Ich will nicht sterben. Lasst mich hier raus!«
    Nichts passierte. Der Schaffner hatte ihn vergessen.
    »Ich bring dich um!«, schrie er.
    Der Zug blieb noch einmal stehen. Wieder nur dieses dumpfe Gemurmel und der Zug fuhr weiter. Wieder passierte nichts.
    Sie lassen mich hier verrecken, dachte er. Seine Füße waren taub. Sein Rücken schmerzte nicht mehr. Sein Hinterteil war eingeschlafen. Nur die Angst war noch da. Dann wurde er still.
    Als er schließlich hörte, wie der Schaffner das Brett unter der Sitzbank löste und die Kiste herauszog, nahm er all seine Kraft zusammen. Er wollte ihn schlagen, ihn anbrüllen. Aber als der Schaffner den Deckel von der Kiste hob und ein Schwall Luft seine Lungen füllte, konnte er nicht einmal die Arme heben. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er wieder stehen konnte. Das Licht und die Luft wischten seinen Zorn weg. Der Schaffner schob ihm den Arm unter die Schulter und schleifte ihn unter den Blicken der anderen zurück in sein Abteil.
    Fahid war bereits dort. Er hatte eine ganze Flasche Wasser ausgetrunken und hatte sich den Rest über den Kopf geschüttet. »Mich bringt nichts mehr in das Loch«, sagte er.

    »Wie weit ist es noch?«, fragte Hesmat.
    »Immer noch fast zwei Tage«, sagte der Schaffner. »Wir sind in Kasachstan. Ihr habt für eine Weile Ruhe. Schlaft jetzt.«
    Er gab ihnen etwas getrockneten Fisch, brachte ihnen Wasser und schloss wieder das Abteil hinter sich.
    Fahid blutete aus der Nase.
    »Was ist?«, fragte Hesmat.
    »Ich weiß nicht«, sagte sein Freund. »Es wird schon besser. Lass uns schlafen.«
    Vor dem Fenster zogen die endlosen Ebenen Kasachstans an ihnen vorbei. Das trostloseste Land, das Hesmat je gesehen hatte. Ein einsamer See. Ein braunes Nichts. Büsche, Salzseen, einzelne Strommasten, Straßen, die aus dem Nichts kamen, sich an einem Punkt vereinten und wieder ins Nichts führten. Zweimal sah er Kamele und traute seinen Augen nicht. Nur selten entdeckten sie Menschen in dieser trostlosen Gegend. Nach Stunden entdeckte er ein riesiges Gebäude am Horizont. Wer baute hier eine Fabrik? Nur vertrocknete Sträucher, Steine und das Nichts säumten den Weg.
    »Wer baut hier eine Eisenbahn?«, fragte er laut.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Fahid, »aber wahrscheinlich ist

Weitere Kostenlose Bücher