Hesmats Flucht
wenn er London niemals erreichen würde. Die Stadt, von der ihm seine Mutter erzählt hatte, die Stadt, die sie nie zu sehen bekommen hatte. In seinen Träumen steht sie noch immer in der Tür und wartet, dass er von der Schule nach Hause kommt. Träume von einer heilen Welt, von ihrem weißen Haus am Stadtrand. Träume vom Geruch ihrer Haare, vom Gefühl, von ihr in die Arme geschlossen zu werden. Träume, die nur noch Schmerzen und Tränen verursachen.
Er hatte keine Kontrolle mehr über sich und schrie, so laut er konnte, bis ihm einer der Umstehenden auf den Kopf schlug und er in das Nichts sank, nach dem er sich gesehnt hatte, seit seine Eltern gestorben waren.
TEIL II
SCHÜTZENDE HÄNDE
Fahid hatte für sie beide bezahlt. Der Tod hatte seinen Wegzoll erhalten und gab sich vorerst damit zufrieden. Alle Probleme waren wie weggewischt. Es kam Hesmat vor, als hielte Fahid seine schützende Hand über ihn.
Zweimal wurde Hesmat noch wie eine Puppe in eine Kiste unter die Sitzbank gesteckt. Es gab Kontrollen, aber keine Probleme. Er zitterte nicht mehr, die Angst war mit Fahid aus dem Fenster geflogen. Er spürte keine Hitze im Versteck, keine Panik, keinen Schmerz. Er war völlig gefühllos geworden. Der Schaffner verschob ihn wie ein Möbelstück in die Holzkiste, das Abteil, wieder in das Versteck und zurück. Wortlos saß Hesmat, lag Hesmat, weinte Hesmat stumm, für sich allein. Als Anklage an all jene, die seinen Freund entsorgt hatten, an all jene, denen nichts heilig war.
Er hörte nicht einmal die Kontrollen, hörte kein fernes Murmeln, hörte nicht die Krallen der Hunde, die über den Boden kratzten. Das Herz schlug keinen Schlag schneller. Ihm konnte nichts Schlimmes mehr passieren. Wenn sie ihn festnahmen, würde er sich freikaufen, so wie er es Fahid versprochen hatte. Er würde nach Duschanbe zurückkehren, erzählen, weinen. Er
würde sich schuldig fühlen, jeden Tag seines restlichen Lebens. Schuldig, überlebt zu haben, während sein Freund neben ihm gestorben war und er aus Angst, entdeckt zu werden, aus dem Vertrauen in Gott und dem Glauben, dass sie alles gemeinsam überstehen würden, geschwiegen hatte. Kein Ton war aus seinem Mund gekommen, als Fahid neben ihm im Sterben lag.
Er hatte nur geweint und gewartet. Auf ein Wunder gehofft, die Augen geschlossen und gebetet. Er würde zurück zu Hanif gehen, ihn um Vergebung für den Tod seines Neffen bitten, sich seinem Urteil beugen, ihn um Aufnahme in seine Familie bitten. Er hatte keine Angst mehr vor den Soldaten, den Polizisten mit ihren Hunden, den Stricken und Handschellen, den verwanzten Löchern, in die sie ihn stecken würden. Sie könnten ihn schlagen, ihn einsperren - wehtun konnten sie ihm nicht mehr. Sie könnten sein Geld haben. Er würde ihnen den Gürtel ins Gesicht schlagen und sie auslachen.
»Du musst jetzt stark sein«, war alles, was die Fremden im Zug gesagt hatten. Als das Fenster geschlossen wurde, war Fahid für sie vergessen. Als hätte er nie existiert. Hesmat war nichts von ihm geblieben. Nicht einmal ein Foto, kein Stück Kleidung, nichts, was er begraben konnte. Fahid war nur noch eine Erinnerung in seinem Kopf.
Sie hatten das Fenster geschlossen und damit das Problem gelöst. Sie kehrten in den Alltag zurück. Zurück zu ihren eigenen Problemen. Kein Grund zu trauern. Vielleicht würden sie es den Familien, die in den Bahnhöfen auf sie warteten, irgendwann bei Tee und Keksen erzählen: »Ach ja, was ich ihm Zug erlebt habe, werdet ihr nie glauben«, würden sie sagen. Fahids Tod war schon jetzt eine Geschichte, die sich gelangweilte Menschen erzählten, um ihre eigenen Probleme zu vergessen. Die Männer, die ihn gepackt und entsorgt hatten, saßen längst wieder auf ihren Bänken, dösten vor sich hin, rauchten Zigaretten
und spielten Karten. Sie lachten, aßen und atmeten wie jede Stunde in ihrem Leben. Niemand verlor ein Wort über die Tragödie, die sich vor ihren Augen abgespielt hatte.
»Du musst stark sein, sonst stirbst auch du«, hatte der Schaffner gesagt, als er Hesmat festhielt.
Fahid war zwei Minuten für sie interessant gewesen. Da war ein Toter. Wohin damit? Sie nahmen sich, was sie in seinen Taschen fanden. Mit umgedrehten Taschen warfen sie ihn aus dem Fenster. Ohne Schuhe, denn schließlich waren es gute Schuhe, die man irgendwo verkaufen konnte. Sie steckten jetzt in der Tasche einer Alten, die sie den Männern abgeschwatzt hatte.
»Was schaust du! Er braucht sie nicht mehr und du hast ja
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