Hesmats Flucht
Witterung aufgenommen hat, hielt er den Kopf in die Höhe, drehte sich, lauschte in den Wind. Da war sie wieder. Die Stimme klang jung.
»Wo kommt das her?«, fragte er die Frauen, die ihn mit großen Augen beobachtet hatten und zu kichern anfingen.
»Wo kommt das her, verdammt noch mal?«, wiederholte er.
Der Fremde versperrte ihm den Weg und sah ihm wortlos in die Augen. Es waren gute Augen. Die Frauen unter den Planen hatten aufgehört zu arbeiten und sahen abwechselnd den Mann und den fremden Jungen an, der stumm vor ihnen stehen geblieben war.
»Was willst du?«, fragte der Mann.
»Tuffon«, sagte Hesmat, »ich suche jemanden, der Tuffon aus Mazar kennt.«
Der Mann gab keine Antwort.
»Er hat mir gesagt, ich soll hier in Moskau nach seinem Freund suchen.«
»Wo kommst du her?«, fragte der Mann.
»Ich bin aus Mazar, Tuffon hat mir geholfen zu fliehen. Er hat eine Apotheke in Mazar, mein Vater hat mit ihm gearbeitet. Kennen Sie ihn? Helfen Sie mir bitte! Tuffon, der Apotheker?«
Das Gesicht des Mannes entspannte sich, er schüttelte sich und hörte nicht mehr auf zu lachen. Er humpelte auf den Jungen zu und zerrte ihn in seinen Stand.
»Du bist der Junge, von dem Tuffon mir erzählt hat! Gott ist groß! - Seht ihn euch an«, sagte er zu den Frauen. »Ein
abgenagtes Huhn ist dick gegen ihn! Gebt ihm zu essen und holt mir mein Telefon! Setz dich, Freund von Tuffon«, sagte er und klopfte mit der Hand auf einen Stuhl. »Erzähl, mein Freund!«
Sayyid ließ ihnen Dal bringen, und Hesmat und sein Begleiter aßen die Roten Linsen mit Gewürzen, bis ihnen die Bäuche wehtaten.
»Bengali Mazar Dal«, sagte Sayyid, »es gibt niemanden, der es so gut kocht wie meine Schwester. Möge Gott euch nicht mehr hungern lassen. Solange ihr bei mir seid, kümmere ich mich darum!« Er lachte über das ganze Gesicht über seinen eigenen Scherz. »Lass es dir schmecken, mein Freund. Du bist nicht mehr in Afghanistan, hier werden wir auf dich aufpassen. Gott ist groß!«
Es war ein komisches Gefühl, die Stimme Tuffons am Telefon zu hören.
»Ich kann es noch immer nicht glauben! Du hast es geschafft. Hab keine Angst, sie werden sich um dich kümmern«, hörte Hesmat.
Tuffon wollte jede Einzelheit wissen, aber Hesmat hatte beschlossen, nie mehr jemandem von seiner Flucht zu erzählen. Mit jeder Erzählung kamen die Bilder zurück, die Schmerzen, die Angst und die Trauer. Jedes Wort tat weh und führte unweigerlich zum Tod seines Freundes. Einsilbig gab er Auskunft.
»Gib mir wieder Sayyid«, sagte Tuffon, »aber danach muss ich noch mal mit dir reden.« Hesmat reichte dem Afghanen, der neben ihm stand, den Hörer.
Er schüttelte den Kopf. Er sah Fahid vor sich, wie er tanzend und lachend durch den Markt gesprungen wäre. »Wir sind wahre Glückspilze«, hätte er gesungen und Hesmat in die Arme geschlossen.
»Sie sind gute Freunde. Vertraue ihnen, sie werden sich um dich kümmern«, hatte Tuffon gesagt.
Hesmat hatte gehört, dass etwas nicht stimmte.
»Dein Onkel ist weg«, war Tuffon schließlich mit der Sprache rausgerückt. »Ich weiß nicht, warum. Es gibt viele Gerüchte. Dein Großvater hat gesagt, er sei nach Italien gegangen. Die Grenze in den Norden ist dicht, er soll über den Iran geflüchtet sein. Auf jeden Fall will er nach London. Viele sagen, es sei wegen des Geldes deines Vaters.«
Dieses Wort hatte genügt: Geld. Sie hatten es nicht vergessen.
»Mehr weiß ich nicht«, sagte Tuffon. »Ich würde es dir sagen, aber ich weiß nicht mehr. Deinem Großvater geht es gut, auch deinem Bruder, aber irgendetwas ist mit deinem Onkel passiert. Er war bei mir, hat nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass du wahrscheinlich tot bist.«
Er verstummte einen Moment.
»Ich habe wirklich geglaubt, dass du am Hindukusch gestorben bist. Ich habe um dich getrauert, so wie ich um deinen Vater getrauert habe. Dein Onkel war wütend. Er hat gemeint, du lebst. Er war sich sicher. Du seist der Sohn seines Bruders, hat er gesagt. Er würde es spüren, wenn du uns verlassen hättest. Er hat gesagt, dass er dich in London finden würde. Dann ist er verschwunden.«
Nach dem Dal verabschiedete sich der freundliche Fremde. Er verschwand so unauffällig, wie er in Saratov plötzlich vor ihm gestanden hatte. »Ich habe noch einiges zu erledigen«, hatte er gesagt und war aufgestanden.
Hesmat hatte ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Bachtabat hatte ihn geschickt. Bachtabat, der jetzt wohl erfahren würde, dass Fahid
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