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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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sie für Leute wie uns. Sollen wir vielleicht zu Fuß gehen?« Er schloss wieder die Augen.
    Es wurde ruhig im Zug. Niemand würde hier im Nichts auf die Idee kommen, einen Zug anzuhalten. Hier gab es nichts, nicht einmal Kontrollen. Endlich schlief auch Hesmat ein.
    »Bleib bei mir«, bat Fahid. »Ich will nicht mehr allein in dieses Loch. Ich kann dort nicht mehr hinein.«
    Der Schaffner drängte. »Ihr müsst euch entscheiden.«
    »Wo ist es sicherer?«, fragte Hesmat.
    »Sicher ist es nirgends. Es ist immer ein Glücksspiel. Einmal
gibt es keine Probleme, dann finden sie wieder alles. Ich weiß es nicht.«
    »Dann gehen wir wieder ins Zwischendeck.«
    Fahid protestierte leise, gab sich aber nickend geschlagen. Sie füllten ihre zwei Plastikflaschen mit Wasser und aßen das letzte Stück Fisch.
    »Lasst das«, sagte der Schaffner. »Ihr werdet nur Durst bekommen. Jetzt kommt endlich.«
    Sie lagen bereits vier Stunden in dem Loch, als er irgendwann aufgehört hatte zu atmen. Hesmat war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu begreifen, dass sein Freund starb. Er bekam selbst kaum Luft, die Mittagshitze war schon im Abteil unerträglich gewesen, und in diesem Loch kochte die wenige Luft, die ihnen blieb.
    Fahid hatte geweint. Dann war er müde und ruhig geworden.
    Hesmat hatte mit den Füßen geschlagen, sich aber nur die Haut von seinen Knien und Ellbogen gerieben. Es war zu wenig Platz, um zu schlagen. Zu heiß, um zu schreien.
    Fahid hatte sich in die Hose gemacht, der Urin schwappte ein paarmal zu Hesmat herüber, dann sogen ihre Sachen, ihre Haare den Urin auf. Der Gestank war unerträglich, die Luft nicht mehr zu atmen. Dann musste sich Fahid auch noch übergeben. Schließlich aber schlief sein Freund ein. Hesmat stieß ihn mit der Hand an, aber er reagierte nicht.
    Als sie ihn aus dem Loch zogen und seinen Körper auf den Boden legten, war er schon lange tot. Hesmat wollte zu ihm, aber die Männer, die aufgesprungen waren, hielten ihn zurück.
    »Du musst stark sein«, sagte einer.
    Er war in einen Albtraum eingetaucht und kam nur langsam an die Oberfläche zurück. Fahid konnte nicht tot sein! Er
kniete sich neben seinen Freund und schrie die Umstehenden an. Immer wieder riss er Fahid in die Höhe, immer wieder entglitt ihm der schlaffe Körper. Mit aller Kraft schüttelte er den schmutzigen, reglosen Freund. Er schrie, so laut er konnte.
    Dann packten ihn diese mächtigen Hände. »Sei ruhig! Du schreist den ganzen Zug zusammen. Beruhige dich. Er ist tot. Du kannst nichts mehr für ihn tun. Willst du auch noch sterben?«
    Alles ging so schnell. Hesmat sah, wie jemand das Fenster öffnete, drei Männer seinen Freund packten und ihn aus dem Fenster warfen. Wie ein Stück Abfall. Einfach aus dem Fenster. Fahid würde irgendwo im Dreck entlang der Bahnstrecke in den unbewohnten kargen Weiten Kasachstans vergammeln. Verrotten, wie einer der toten Esel, die Hesmat gesehen hatte. Es war aus. Alles vorbei. Die Reise war hier zu Ende.
    Alle hatten ihm davon abgeraten. Alle, denen er nicht vertrauen konnte, alle, vor denen ihn sein Vater gewarnt hatte. »Glaube ihnen nicht«, hatte er gesagt, »du kannst dich auf niemanden verlassen. Vergiss nicht, was ich dich gelehrt habe!« Wenig später war auch er tot gewesen. Tot wie alle Menschen, die Hesmat etwas bedeutet hatten. Jetzt war sein letzter Freund gestorben. Verreckt in einem stickigen Loch, einem dunklen Versteck im Zwischendeck der verrosteten Bahn. Aus dem Fenster geworfen wie ein vergammeltes Stück Fleisch.
    Hesmat hatte überlebt. Die heiße Luft hatte nur für einen von ihnen gereicht. Wieder hatte er überlebt, und wieder wünschte er sich, gestorben zu sein. Er lebte weiter.
    Sein Körper lag auf dem aufgerissenen Plastikfußboden, seine Finger krallten sich in einen der Risse im Boden. Sein Geist hatte den verdreckten Körper verlassen. Er atmete. Irgendetwas füllte die Lungen und verließ seinen Körper wieder, ließ ihn weiterleben. Sein Kopf war tot. Die Reise war zu Ende. Die
Flucht vorbei. Die Flucht, die alles war, was ihn in den letzten Monaten am Leben erhalten hatte. Er hatte kein genaues Bild davon, was er sich erhofft hatte. Hoffnung war nur ein Gefühl. Hoffnung und Angst hatten ihn angetrieben, aus Afghanistan zu flüchten. Hoffnung und Angst hatten ihn schließlich in diesen Zug gebracht. Doch mit Fahid hatten die Männer die Hoffnung aus dem Fenster geworfen.
    Seine Eltern wären stolz auf ihn. Er hatte es zumindest versucht, auch

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