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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Boehmer
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ließen sich von einem Jungen im Schlaf überraschen, der unbemerkt an den schlafenden Wachen vorbeispaziert war.
    Das würden ihm die Soldaten heimzahlen. Sobald der Kommandant verschwunden war, würden sie ihm eine Abreibung verpassen.
    Irgendwo im Raum wurde telefoniert. Immer wieder wählte irgendjemand eine Nummer und ließ sich weiterverbinden. Hesmat hatte seit zwei Tagen nichts gegessen und er hatte Hunger. Die Soldaten würden ihn sicher hungern lassen. Er musste seine Chance nützen. Er überlegte lange, bevor er an die Tür klopfte.
    Der Kommandant saß an einem Tisch und besprach etwas auf einer großen Karte. Er sah dem Gefangenen, der nach Essen bettelte, kurz in die Augen und nickte dem wartenden Soldaten zu. Wenig später drückte ihm der Soldat zwei Stück Brot, einen Becher Wasser und eine Zigarette in die Hand. Hesmat sah ihn verdutzt an. Der Soldat grinste. Er war noch ein Kind oder hatte ihn die Flucht erwachsen werden lassen?
    »Im Krieg werden Jungen zu Männern«, hatte sein Vater gesagt. Warum sollte dasselbe nicht auch für eine Flucht gelten? Warum sonst sollte ihm der Soldat eine Zigarette anbieten? Er legte sie vorsichtig neben sich auf den Stuhl. Vielleicht konnte er sie tauschen. Der Hunger ließ ihn nicht weiter darüber nachdenken, und er biss in das Brot, das überraschend frisch schmeckte, und wartete auf sein Urteil. Als ihn der Kommandant holen ließ, lag die Zigarette noch immer auf dem Stuhl.
    »In den Wagen«, befahl der Kommandant, »wir fahren.«

NOCH EIN GEFÄNGNIS
    Wenn man in Sicherheit schlafen kann, ist alles zu ertragen. In den ersten Tagen hatten ihm die Männer Angst gemacht. »Komm, du hübscher Arsch«, hatten sie ihm nachgerufen. »Du kannst dich nicht immer verstecken. Du wirst lange hier sein, wir werden dich schon kriegen.«
    Der Großteil der Männer kam aus Afghanistan. Sie sahen nicht aus wie Flüchtlinge. Er tippte auf Drogenschmuggler, Schlepper und Kuriere, für die Hesmat eine willkommene Abwechslung im Gefängnisalltag bedeutete und die sich einen Spaß daraus machten, ihm Angst einzujagen. Die Aufseher waren kaltherzig, sie kannten kein Mitleid. Hesmat war ihnen egal. Trotzdem hatten sie ihn nicht zu den Männern gesteckt. Sie schienen einfach keine Lust auf zusätzliche Arbeit oder Schwierigkeiten zu haben. Ein Junge, der im Gefängnis vergewaltigt und misshandelt wurde, bedeutete zusätzliche Scherereien und Streitereien unter den Gefangenen.
    Sie hatten ihn in die Einzelzelle geworfen, in der er neun Wochen bleiben sollte. Zuerst hatte er Angst. Allein in der Dunkelheit, allein ohne einen Menschen, mit dem er reden konnte. Niemand, dem er zuhören konnte. Aber er lernte seine
eigenen Wände schnell zu schätzen. Sie schützten ihn vor den Übergriffen der Gefangenen, vor den nächtlichen Vergewaltigungen, vor den feuchten Händen und Lippen der Männer, die ihn während des Tages immer wieder berührten und mitreißen wollten. Ihre Hände waren überall, und überall waren Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Am schlimmsten war es beim Essen, während jener paar Minuten, in denen die Wachen abgelenkt und gelangweilt in den Ecken standen, sich unterhielten oder rauchten und Hesmat den Männern ausgeliefert war. Er flüchtete sich schließlich in die Nähe der Wachen, die ihn nur kurz anstarrten, aber nichts daran auszusetzen hatten, als er stehend neben ihnen mit den Händen zu essen begann.
    Die Augen verfolgten ihn überallhin und er sah die Gier in ihnen.
    »Komm zu mir, Kleiner!«, riefen sie. »Ich kümmere mich schon um dich.«
    Der ganze Saal lachte.
    Die einsame Zelle war wunderbar. Alles ist erträglich, wenn man schlafen kann, ohne Angst vor den Männern und ihrer Lust haben zu müssen. Aber in der Dunkelheit quälten ihn die Stimmen aus der Vergangenheit. Ständig flüsterten sie ihm Fragen ein, die ihn nicht schlafen ließen. Warum bist du nicht in Moskau geblieben?, fragten sie. Warum hast du nicht auf Sayyid gehört oder auf Hanif? Warum bist du nicht geblieben und hast gewartet, bis du älter bist und sicher nach London kommst? Warum hast du nicht auf sie gehört? Sie werden dich zurück nach Afghanistan schicken! Sie werden dich nicht nach einem Monat wieder freilassen. Sie werden dich die ganzen sechs Monate im Gefängnis behalten, wie es der Hauptmann im Lager gesagt hat.
    Die Stimmen kamen und gingen. Was sie zurückließen, waren
Einsamkeit, Zweifel und Tränen. Dabei hatte er es so weit geschafft!
    Er musste telefonieren. Er

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