Hesmats Flucht
gehetztes Wild. Die Fenster waren vollkommen verdreckt, der Schein der Lampe im Inneren war zu schwach. Er sah nur ein paar Menschen, die sich schlafend an die Wände drückten. Und hinter der Baracke die Umrisse eines Lastwagens. Vorsichtig klopfte er an die Tür, öffnete sie, ohne auf Antwort zu warten, und trat ein.
»Helft mir!«, sagte er. Der Rest des Satzes erstickte in seinem Mund. Er blickte direkt in die Mündung Dutzender Gewehrläufe.
Die verschlafenen Augen der Soldaten starrten ihn an wie einen Geist. Als würden sie zum ersten Mal einen ausgehungerten
Jungen sehen. Hesmat war kein Gegner für den ausgewachsenen Mann, der sich schließlich im Halbdunkel auf ihn geworfen hatte und jetzt all seine Kraft in jeden Schlag, in jeden Handgriff legte. Kurz darauf lag Hesmat wie ein Paket gefesselt und verschnürt zu ihren Füßen und keuchte nach Luft. Blut rann aus seiner Nase und sein ganzer Körper zitterte.
Niemand von den fremden Männern kam auf die Idee, die brutalen Fesseln zu lockern, dem blutenden Jungen aufzuhelfen. Vielmehr interessierte sie der Rucksack, den sie ausleerten und genau untersuchten. Achtlos warfen sie den Inhalt auf den Boden, auf dem schließlich auch der leere Rucksack landete. Einer der Männer drehte ihn mit seinen schweren Stiefeln auf den Rücken. Hesmat schrie auf. Er lag nun auf seinen eigenen gefesselten Händen. Der Schmerz in den Gelenken und den Schultern war unerträglich.
»Du hast ein Kind gefangen«, schrien sie und klopften dem Gefährten, der ihn überwältigt hatte, lachend auf die Schulter.
Hesmat blickte sich um und suchte vergeblich nach dem Kommandanten. Irgendjemand musste die überraschte Truppe doch befehlen, dachte er. Sosehr er sie erschreckt hatte, so schnell verloren sie auch wieder das Interesse an ihm. Niemand stellte eine Frage, niemand wollte wissen, ob er allein war, ob noch andere um das Haus strichen, ob es Waffen gab. Vier Leute hatten kurz vor die Hütte geschaut und kehrten nach ein paar Minuten wieder zurück. Niemand schrie, niemand nannte den Trupp Versager, weil sie von einem Jungen im Schlaf überrascht worden waren, niemand außer ihm wurde geschlagen oder getreten. Niemand musste sich vor einem Vorgesetzten rechtfertigen.
Sie löschten das Licht, legten sich wieder auf ihre Matten, und nach ein paar Minuten erfüllte lautes Schnarchen die Hütte. Mit letzter Kraft drehte Hesmat sich auf den Bauch, um so
die Schmerzen in den Händen und den Schultern erträglicher zu machen. Es hatte keinen Sinn, zu schreien. Warum sollten sie ihm helfen? Warum sollte sich einer erbarmen? Er war nur ein schlechter Traum, den man so schnell wie möglich vergessen wollte. Ein Traum, der ihre Ruhe gestört hatte.
Als der Morgen anbrach, war die Hütte vom Gestank der Männer erfüllt, und die Scheiben waren von ihren Ausdünstungen beschlagen. Als einer der Soldaten unter lautem Protest der anderen die Tür aufriss und wie ein Fisch an Land nach Luft schnappte, kehrte das Leben in die Hütte zurück.
Hesmat hatte die ganze Nacht in die Dunkelheit gestarrt und überlegt, was passieren würde. Vielleicht würden sie ihn laufen lassen, schließlich behinderte er sie nur. Jeder Gefangene bedeutete Schreibarbeit, Probleme, Telefonate. Hesmat hatte selbst erlebt, dass die Polizisten und Soldaten nichts so sehr hassten wie die Schreibarbeit, die jeder Gefangene bedeutete. Kein Gefangener, keine Probleme, die Rechnung war einfach. Aber hier war alles anders. Niemand interessierte sich für ihn. Sie waren nicht einmal auf die Idee gekommen, seine Hosentaschen zu durchsuchen. Er war so uninteressant für die Männer wie der graue Morgen, der gerade heraufdämmerte.
Der Kommandant war klein. Als Hesmat sich vor ihm aufrichtete, waren ihre Augen auf gleicher Höhe. Er war um einen Kopf kleiner als die Männer, die er befehligte und die er vor die Tür gescheucht hatte. Er hatte ihm die Schnüre von den Handgelenken geschnitten und einem seiner Soldaten befohlen, Wasser zu holen. Er wollte wissen, woher Hesmat kam und wo der Rest von ihnen war, und er wurde zornig, als er ihm nicht die Antworten gab, die er hören wollte. »Erzähl das jemand anderem!«, schimpfte er. »Wo sind sie?«
Schließlich brachte er ihn in eine kleine Kammer am Ende
der Hütte. Als er die Tür verschlossen hatte, begann der Kommandant draußen zu schreien. Hesmat verstand kaum, worum es ging, aber zweifellos war er der Grund. Sie hatten das Hinterland der Grenze zu überwachen und
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