Hesmats Flucht
über die Grenze in die Ukraine ging und die Schleichwege kannte, verdiente sich offenbar ein paar Dollar zusätzlich mit den Flüchtlingen. Es gab fixe Punkte, an denen sie auf die Heimatlosen warteten und an denen ihnen die Schlepper die »Ware« in die Hand drückten. Auf der anderen Seite der Grenze verschwanden die Flüchtlinge dann wieder so schnell, wie sie gekommen waren. Die Alten wussten nicht, woher sie kamen, hörten nur von ihren Träumen von einem besseren Leben, sahen das Erlebte in den Gesichtern jener, deren Sprache sie nicht verstanden und deren Namen sie nie erfuhren. Sie sahen sie kommen und gehen und erfuhren nie, ob die Menschen ihr Glück gefunden hatten. Für sie waren es wandelnde Dollarscheine. Ein paar Scheine zusätzlich für ein karges Leben in einer Gegend, in der scheinbar selbst die Erde, auf der sie lebten, zu ihrem Feind geworden war.
Hesmat fragte sich, wie viele dort draußen unterwegs waren, ob es auch hier Räuber gab, die Jagd auf die Flüchtenden machten. Jeder hatte ein paar Dollar einstecken und die Toten würde niemand vermissen, vor allem nicht in dieser Wildnis. Ein paarmal hatten sie Schüsse gehört.
»Wölfe«, hatte der Alte gesagt.
Nach zehn Tagen blieb der Alte so plötzlich stehen, dass Hesmat beinahe in ihn hineingelaufen wäre. »Halt dich an den Weg«, sagte er und wies auf eine Ebene ein paar Kilometer unter ihnen. »Du kannst es nicht verfehlen. Sie warten dort auf
dich.« Dann schwenkte er seine Hand Richtung Westen. »Da vorne ist Kiew.« Er ließ die Hand fallen und drehte sich wortlos zu seiner Frau um. Sie verschwanden grußlos im Wald. Er blickte ihnen lange nach. Auch wenn sie schweigsam gewesen waren, hatte er die beiden gemocht.
Dann machte Hesmat sich an den Abstieg, rutschte aus und kugelte die Böschung hinunter auf die Straße. Als er sich auf dem Schotter aufrappelte, bemerkte er, dass seine Hände und sein Gesicht zerkratzt waren. Und er blutete an den Ellbogen.
Er blickte sich um. Es gab keine frischen Spuren im Schotter, morsche Zweige lagen unberührt auf dem Weg. Er überlegte und lauschte. Er könnte parallel zur Straße im Unterholz laufen und so immer in Deckung bleiben. Aber nach nur zwei Schritten war er wieder zurück auf der Schotterpiste. Das Unterholz war dicht, seine aufgeschlagenen Ellbogen bluteten und schmerzten und von den Dornen hatte er auch genug. Seit Ewigkeiten war hier niemand mehr gefahren, auch jetzt würde niemand vorbeikommen.
Nach zwei Stunden brach die Nacht herein, ohne dass er die Ebene, die ihm der Alte in der Ferne gezeigt hatte, erreicht hatte. Immer wieder blieb er stehen, um sich umzusehen. Hatte er sich doch für die falsche Richtung entschieden? Mit jedem Schritt wurde er unsicherer und die hereinbrechende Nacht undurchdringlicher. Je lauter sein Herz schlug, desto unheimlicher wurde der Wald. Die Tiere erwachten und jedes Knacken fuhr ihm in die Knochen. Er hatte die Wolf- und Bärenspuren gesehen, hatte aber in den letzten Tagen mit den zwei Alten keinen Moment an die Gefahr gedacht. Jetzt, wo er allein war, kam die Angst. Er kannte diese Wälder nicht, er wusste nicht, wer in ihnen hauste. Die Möglichkeit, dass ihn jederzeit etwas Gefährliches aus der Dunkelheit anspringen konnte, trieb ihn vor sich her.
Er begann zu laufen. Irgendetwas jagte ihn, ständig spürte er einen fremden Atem in seinem Nacken. Er wollte schreien, doch das würde, was immer es auch war, erst recht auf ihn aufmerksam machen. Jeder Baum schien Augen zu haben, jeder Luftzug schien ihm etwas zuzuflüstern. Er nahm all seinen Mut zusammen und zwang sich, stehen zu bleiben. Er drehte sich um, das Herz klopfte in seinen Schläfen. Nichts. Doch jedes Mal wenn er weiterging, folgten ihm Schritte, hörte er das Knacken, hörte er die Stimmen, das Flüstern, das Klicken einer Waffe. Tausend Geräusche, tausend Stimmen und doppelt so viele Augen. Er versuchte, klar zu denken, doch die Dunkelheit verschlang seinen Mut. Alles, was er sah, war dieser schwache helle Streifen vor ihm: der Rest der Straße, den die Nacht noch nicht verschluckt hatte.
Er schrie auf, als er plötzlich etwas Weiches im Gesicht spürte. Ein dünner Ast hing über die Straße. Der Schrei hallte von irgendwoher wider. Jedes Geräusch kam aus der Dunkelheit zurück.
Als er den Verschlag sah, hatte er bereits eine solche Angst, dass er sich jedem Fremden an den Hals geworfen hätte. Die Angst, der Hunger und die kalte Nacht trieben ihn vor sich her wie ein
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