Hesmats Flucht
Kinder ihre Mütter. Das Wimmern hörte auf.
»Nein, die Sachen kommen auf einen anderen Lastwagen!«, sagte der Schlepper. »Lasst alles liegen, was ihr nicht unbedingt braucht.«
Sie stellten gehorsam die großen Plastiktaschen ab und bestiegen wie Schafe langsam und ohne zu meckern den Lkw, in dem sie sich flach nebeneinander auf den Boden legen mussten. Dann wurde jeder Zentimeter Freiraum mit einer kleinen Tasche, einem Kind oder einem Alten ausgefüllt. Auf die Flüchtlinge wurden dünne Matten gelegt und darüber leere Kartons geschlichtet. Die Kinder schrien, die Mütter versuchten, sie zu beruhigen.
»Seid still!«, kam es dumpf von den Schleppern. Durch die Matten waren ihre Befehle kaum zu hören. »Wenn die Kleinen schreien, werdet ihr alle entdeckt werden und sterben.«
Dann setzte sich der Lkw in Bewegung.
»Wir ersticken alle!«, schrie eine Frau.
»Sie haben Luftschlitze gemacht«, versuchte eine Männerstimme, sie zu beruhigen.
Die Kinder wimmerten, viele weinten, aber der laute Motor, das Holpern und Rumpeln über die Bodenwellen erstickten die Geräusche.
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Hesmat.
Aus der Dunkelheit kam die Stimme seines Onkels, der neben ihm lag: »Es ist weit, ich weiß es auch nicht, aber es wird auf jeden Fall eine anstrengende Fahrt.«
Ein Mann betete laut, als ihn der Schlag einer Bodenwelle für einen Augenblick schmerzhaft aufstöhnen ließ. Die Holzbretter unter ihnen schlugen ihnen wie Fausthiebe in die ungeschützten Gesichter. Wenigstens kam mit zunehmender Geschwindigkeit genügend Luft in das Versteck. Sie atmeten alle auf und beruhigten sich etwas. Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und der Tag langsam anbrach, konnte
Hesmat durch die Bretterschlitze hinunter auf die Antriebswelle und die Straße sehen, die unter ihnen wegrollte.
Im Lauf des Tages wurde der Durst unerträglich. Der Lkw rollte noch immer, Stunde um Stunde, ohne Erbarmen, ohne Pause der Grenze entgegen. Hesmat war kurz eingenickt. Für einen Sekundenbruchteil hatte er vergessen, wo er war, hatte den Durst, die Schmerzen und die Angst vergessen. Der Schlag einer Bodenwelle riss ihn aus seinen Träumen.
Das Gewicht der Matten und leeren Kartons lastete mit jeder Stunde schwerer auf seinem dünnen Körper. Die Kinder waren still geworden. Würden sie das überstehen? Er hatte selbst erlebt, wie sein Freund in der Enge immer stiller geworden war. Irgendwann war die Stille vollkommen gewesen und sein Freund war tot. Er bekam Angst. Die Kinder konnten diese Fahrt nicht überleben. Jede Sekunde würde eine Frau zu schreien beginnen. Sie würde merken, dass ihr Kind gestorben war, sie würde alle verrückt machen. Er konnte ihre Schreie schon fast hören.
Es stank nach Urin. Irgendwann hatte er die Feuchtigkeit gespürt, die von seinem Vordermann zu ihm rann. Dann war der Lkw auf eine Schotterpiste eingebogen. Staub erfüllte ihr Versteck, Hesmat musste die Augen schließen und das Atmen fiel ihm schwer. So ging es noch bis in die Nacht ohne Pause Richtung Westen.
Als der Lkw endlich stehen blieb, hatten viele nicht mehr die Kraft, allein aufzustehen. Sie waren abgekämpft, müde und jeder einzelne Knochen in ihrem Körper schmerzte, aber die Schlepper hatten wenig Geduld und rissen sie erbarmungslos unter den Matten hervor. Sie zogen die Kinder an den Füßen von der Ladefläche und stellten sie auf den aufgeweichten Boden. Viele sanken zusammen wie leere Säcke oder schleppten sich mit letzter Kraft zu einer Baumgruppe, wo sie sich ins
feuchte Gras fallen ließen. Endlich keine Schläge mehr, keine Schmerzen, nur das weiche Gras.
Hesmats Hüfte fühlte sich an, als würde sich das Fleisch von seinen Knochen lösen. Er hatte Blutergüsse am ganzen Körper und jede Bewegung tat weh. Er wartete auf das Schreien. Noch immer wartete er darauf, dass sie entdecken würden, dass eines der Kinder nicht mehr am Leben war. Aber sie holten immer noch einen und noch einen Lebenden aus dem Lkw und stellten, legten oder setzten ihn auf den Boden. Als der Lkw wegfuhr, schaute sich Hesmat ungläubig um. Niemand hatte geschrien, niemand weinte. Sie hatten alle überlebt. Es war ein kleines Wunder.
Die Schlepper verteilten ein paar Brote und gaben ihnen endlich zu trinken.
Ihre Lippen waren aufgerissen und ihre Körper ausgemergelt, der Durst war unbeschreiblich gewesen. Während der Fahrt hatten sie auf Regen gehofft. Die Reifen unter ihnen hätten vielleicht etwas Wasser in ihre
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