Hesse-ABC
hinausdenkender Visionär künftiger Politik. Selten ist die
Rolle des denkenden, an einer radikalen Veränderung der Struktu-
ren und der Lebensweise interessierten Individuums, das sich
dennoch weigert, ja weigern muß, revolutionären Programmen
oder Funktionären zu folgen, so intensiv gedacht worden.« Den-
noch, Hesses Blick geht immer über die bloß politische Sphäre
hinaus ins Kulturelle. Hier weiß er den Ort, wo sich das, was man
sät, in Frucht zurückgibt: Vollendung der Persönlichkeit.
Presselsches Gartenhaus
»Im Presselschen Gartenhaus« aus dem Jahre 1913 trägt den Un-
tertitel »Eine Erzählung aus dem alten Tübingen«. Ein gemeinsa-
mer Nachmittag dreier gänzlich unterschiedlicher Dichter wird
erzählt. Mörike und Waiblinger laden Hölderlin ein. Hölderlin lebt
geistesverwirrt in Pflege bei einer biederen Handwerkerfamilie.
Mörike kann sich nicht zwischen seiner Berufung zum Dichter und
seiner beruflichen Zukunft als Pfarrer entscheiden, will nicht die
letzten Taue, die ihn an die Bürgerwelt fesseln, kappen. Dem un-
gestüm-jugendlichen Waiblinger steht schon der unaufhaltsam
heranrückende Untergang ins Gesicht geschrieben. Und zwischen
ihnen Hölderlin, der verwirrte Dichter. Diese Konstellation ist
höchst eindrucksvoll. Waiblinger sieht seinen Untergang: »Mir
wird es gehen wie unserm Hölderlin, und die Kinder werden mich
auslachen. Aber ich habe keinen Hyperion gedichtet!« Tatsächlich
wird Waiblinger Jahre später vergessen und verkommen in Rom
sterben. Und Mörike? »Nach mißglückten Versuchen in der Welt
und hoffnungslosen Kämpfen mußte er endlich doch zu Kreuze
kriechen.« Er
wurde aber nur ein »halber Pfarrer«. Denn: »Unter Schmerzen
beschied er sich und formte in erdarbten Stunden seine un-
verwelklichen Gedichte.«
Dichter zu sein in Deutschland, sagt uns Hesse, ist eine heikle An-
gelegenheit. Die Dichter müssen erst tot sein, damit die Deutschen
sie lieben können. Die Deutschen haben eine nekrophile Haltung
zu ihren Dichtern! Als Symbol dieses Mißverhältnisses sitzt Höl-
derlin über dem Neckar in seinem Erkerzimmer, ein gebrochener
Mensch, der sich ganz in seinen Traum zurückzog:»... er hat noch
gegen zwanzig Jahre in seiner toten Dämmerung dahingelebt.«
psychedelisch
Schlagwort der amerikanischen Hesse-Renaissance der sechziger
Jahre. Es nimmt seinen Anfang mit Timothy Learys Aufsatz über
Hesse von 1963: »Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis«.
Der Text läuft auf eine Interpretation zu, über die sich Hesse si-
cherlich sehr gewundert hätte: »Es scheint klar, daß Hesse ein
psychedelisches Erlebnis beschreibt, einen durch Drogen herbei-
geführten Verlust des Selbst, eine Reise in die innere Welt. Jede
Tür im Magischen Theater trägt die Aufschrift, die auf endlose
Möglichkeiten des Erlebnisses hinweist.« Hesse ging es wohl eher
um Selbstfindung mittels surrealer Übertritte aus der Wirklichkeit
in die phantastischen Reiche der Möglichkeit. Es ist – trotz oder
wegen allen Traums – ein sehr nüchternes Buch. Also keine »Be-
freiung durch die Droge«, wie Leary mutmaßt. Hesse war zwar
Weinliebhaber, jedoch kein Junkie – weder von Meskalin – noch
gar LSD-Konsum ist etwas bekannt. Nicht eine chemische Sub-
stanz, deren Spur Leary im »Steppenwolf« gefunden zu haben
glaubt, produziert das »magische Theater«, sondern kühle Künst-
lerphantasien behaupten hier eine eigene Welt. Immerhin war
Learys zeitgeistgerechte Interpretation ebenso folgenreich wie
erfolgreich. Sie öffnete der 68er Generation die Tür für eine anar-
chistische und »psychedelische« Hesse-Lektüre.
Psychoanalyse
Krisen sind Vorboten kommender Katastrophen – oder von Hei-
lung. Beides liegt mitunter dicht beieinander. Die Symptome tre-
ten offen zutage. Bei Hesse ist es 1916 der Tod des Vaters und die
schwere Krankheit seines Sohnes Martin, die ihn an einen Punkt
bringen, wo er weiß: So wie es ist, kann es nicht bleiben. Die Ent-
fremdung zu Maria Bernoulli hat ein unlebbares Maß angenom-
men (Hesse hat es in dem Roman einer Künstlerehe »Roßhalde«
bereits 1914 beschrieben), die Arbeit für die Berner Kriegsgefan-
genenfürsorge lahmt seine künstlerische Energie, die nationalisti-
sche Kriegspartei in Deutschland hat in Hesse einen Feind erkannt
– Hesse fühlt sich ungeliebt und unverstanden. Alles, was ihm
sicher, berechenbar schien, hat sich als höchst unsicher und
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