Hesse-ABC
unbe-
rechenbar erwiesen. Und seine Frau, an Schizophrenie leidend,
muß sich zur Behandlung in eine Nervenklinik begeben.
Auch Hesse geht in ein Sanatorium nach Sonnmatt bei Luzern und
beginnt bei Dr. Lang, einem jungen C.-G.-Jung-Schüler, eine Ana-
lyse. Für einen Künstler mit ausgeprägter psychologischer Raffi-
nesse wie Hesse, so sollte man meinen, ein ungewöhnlicher
Entschluß. Und ein höchst fragwürdiger wohl auch. Schöpft nicht
gerade der Künstler aus seinen ihm selbst verborgenen Ur-
Konflikten, versucht sie immer wieder in eine Gestalt zu bringen?
Wäre die Auflösung dieser quälenden Ungelöstheiten vielleicht
das Ende seines künstlerischen Antriebs, der ja immer auch eine
instinktive Form von Eigentherapie ist? Die Gefahr sieht Hesse
sehr wohl. Aber er fühlt sich gelähmt, er ringt um eine Entschei-
dung, die ihn befreien soll von falschen Maßstäben, falschen
Rücksichten. Das Hören auf seine eigene innere Stimme soll es
ihm ermöglichen herauszufinden, wie er weiterleben will. Hesse
weiß, er muß einen Entschluß fassen, ohne den er nicht mehr wei-
ter leben, nicht weiter arbeiten kann.
Hesse ist, was psychologischen Sinn betrifft, ein an Nietzsche und
Dostojewski geschulter Eingeweihter. Aber hier geht es um harte
Fragen an sich selbst, solche, denen man lieber ausweicht. Darum
wählt er sich in Dr. Lang einen Partner, der ihn bei dieser stufen-
weisen Selbsterforschung der eigenen Seele begleiten soll.
Hesse merkt schnell, daß er immer noch nicht aus dem Schatten
seiner von Verboten und Opposition gegen diese Verbote be-
stimmten Kindheit herausgetreten ist. Besonders die von der Mut-
ter so verachtete und sogar als teuflisch geächtete dunkel-
triebhafte Seite des eigenen Wesens quält ihn. Er, der gern von
der »begierdelosen Liebe« als Ideal spricht, spürt in sich unzügel-
bare Begierden. Will er den Selbsthaß des Pietisten-Kindes über-
winden, muß er das Chaotisch-Abgründige des sexuellen Triebs
als ein Stück seiner Natur lieben – und damit kultivieren – lernen.
Als Resultat der Gespräche mit Dr. Lang beginnt er zu aquarellie-
ren. Das eröffnet ihm eine Selbst- und Weltentdeckung mit bislang
ungekannten Mitteln: Farbe.
Dr. Lang weiß, es kann immer nur eine »vorläufige Ich-Einigung«
gelingen. Und Hesse akzeptiert den fünfunddreißigjährigen Lang,
der als Katholik auf einer Benediktiner-Schule in Einsiedeln erzo-
gen wurde und der die Selbstkasteiungsneurose Hesses sehr gut
verstehen kann. Auch scheint er von der Hybris gefeit gewesen zu
sein, Hesse »heilen« zu wollen, sonst wäre es wohl nicht zu den
etwa sechzig therapeutischen Sitzungen zwischen Juni 1916 und
November 1917 gekommen. In einem Artikel für die »Frankfurter
Zeitung« schreibt Hesse 1918 in »Künstler und Psychoanalyse«
über die »intensive Selbstprüfung« durch die Analyse, die dazu
führt, daß man »ein Stück Entwicklungsgeschichte wirklich er-
lebt«: »Die Analyse stellt eine große Grundforderung, deren Um-
gehung und Vernachlässigung sich alsbald rächt, deren Stachel
sehr tief geht und dauernde Spuren hinterlassen muß. Sie fordert
eine Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, an die wir nicht gewohnt
sind. Sie lehrt uns, das zu sehen, das anzuerkennen, das zu unter-
suchen und ernst zu nehmen, was wir gerade am erfolgreichsten
verdrängt hatten, was Generationen unter dauerndem Zwang ver-
drängt hatten.«
Aber daß Hesse sich so intensiv der Selbst-Analyse widmet, hat
auch einen anderen Grund: sein künstlerisches Interesse an C. G.
Jungs Symboldeutungen. Der Platoniker in Jung ist ihm seelen-
verwandt. Die Beschäftigung mit der »religiösen Symbolwelt«
bringt ihm die Religion wieder nahe, ohne sich dabei den kirchli-
chen Ritualen und Verboten unterordnen zu müssen, gegen die er
seit seiner Kindheit eine heftige Aversion hegt. Dieser neue Zu-
gang zur Religion im ganz ursprünglichen Sinne hat etwas Befrei-
endes. Von hier aus lassen sich Mythologien als Märchen
erzählen. Weltschöpfungs- und Selbstschöpfungsgeschichten ver-
binden sich zu Dichtung, die den ästhetischen Selbstbeweis mit-
tels ihrer Form führt. Nur so vermag Hesse von September bis
Oktober 1917 in einem Schaffensrausch den »Demian« zu schrei-
ben (zum Zeichen des Neuanfangs unter dem Pseudonym Emil
Sinclair) und darin Dr. Lang als ↑ Pistorius auftreten zu lassen. Vor allem aber faßt er den Entschluß, das für ihn (anders als bei Thomas
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