Hetzer & Kruse 03 - Schattengift
Und, ist es sehr stressig vorne, kommst du gut allein klar?“
„Sicher, Heiner, ich mache doch sonst sowieso auch fast alles allein. Oder glaubst du, die anderen sind mir eine große Hilfe?“
Mit diesen Worten rauschte sie durch die Tür. Ihr Luftzug ließ einige Blätter von Heiners Schreibtisch wehen.
Vier Wochen zuvor
Nachdem Anke sie zunächst ignoriert hatte und später kein gutes Haar an ihr ließ, war Marie-Sophie verunsichert. Es war schwer, mit jemandem zu arbeiten, der einen plötzlich rundherum ablehnte. Mit einem Mal.
Schlimmer noch, Anke suchte jetzt das Haar in der Suppe. Sie beobachtete sie, kontrollierte sie und versuchte, hier und da ihre Arbeit zu kritisieren. Meist fand sie dafür geeignete Momente, wenn der Chef in der Nähe war oder eine Kollegin, damit diese mithörten.
Die Andeutungen waren vage, aber jeder wusste, wer gemeint war.
Marie-Sophie war nicht der Typ Mensch, der diesem bösartigen Verhalten etwas entgegenzusetzen hatte. Es war ihr zuwider. Sie hasste die Dominanz anderer Menschen, und sie konnte sich nicht wehren. Das lag unter anderem daran, dass sie in ihrer Jugend und Kindheit gelernt hatte, nicht aufbegehren zu dürfen.
Konfrontation hatte grundsätzlich zur Folge gehabt, dass sie den Kürzeren zog. Manche ihrer Narben waren sichtbar, andere lagen in der Seele versteckt. Die brachen bisweilen auf und bluteten wieder. Dann sprachen sie zu ihr, flehten, als wären die Wundränder ein Mund:
„Schweig, zieh dich zurück, werde unsichtbar!“, bettelten sie mit zitternder Stimme.
Und Marie-Sophie gehorchte. Sie gehorchte nicht Anke, sondern sich selbst. Immer stiller wurde sie. Vor allem versuchte sie, keine Fehler zu machen, keine Angriffsfläche zu bieten. Doch die Angst machte sie unsicher. Sie musste auf der Hut sein.
„Marie-Sophie“, sagte Anke eines Tages zu ihr,
„hast du das Rezept mit den Zuckertabletten zu Herrn Spilker geschickt?“
„Ja, wieso?“
„Er hat es immer noch nicht. Wo hast du es denn hingeschickt?“
„Na, ganz normal an die Adresse auf seiner Karteikarte.“
Anke stöhnte und rollte die Augen.
„Mensch, jeder hier weiß doch, dass Herr Spilker sein Rezept immer an seinen Zweitwohnsitz geschickt bekommt. Die Adresse ist in den Notizen hinterlegt.“
„Ach ja, das wusste ich nicht.“
„Sicher wusstest du das. Du hast ihm selbst schon mal was dorthin geschickt. Das habe ich dir damals extra gesagt.“
„Mag sein, aber das ist mindestens ein halbes Jahr her. Und es steht nirgendwo vermerkt in der Karteikarte. Vielleicht sollten wir das mal obendrauf notieren.“
„Das brauchen wir nicht, weil das sowieso jeder weiß, nur du augenscheinlich mal wieder nicht. Dabei erinnere ich mich ganz genau daran, dich darauf hingewiesen zu haben.“
Marie-Sophie gab auf und schwieg. Anke holte tief Luft.
„Der war jetzt richtig Galle, weil er extra fahren muss, um sein Rezept zu holen.“ Sie bohrte den Dolch noch tiefer und Marie schlug vor:
„Ich kann ihn ja anrufen und ihm die Situation erklären.“
Anke lachte auf. „Ich glaube nicht, dass er Lust hat mit dir zu sprechen. Das Kind ist sowieso jetzt in den Brunnen gefallen.“
„Wahrscheinlich hat sie recht“, dachte Marie-Sophie und stand auf, um in den EKG-Raum zu gehen.
„Wo gehst du hin?“, fragte Anke.
„Ich will schon mal das Blutdruckmessgerät fertig machen. Gleich kommt Frau Knickrehm.“
„Denk dran, dass du neue Batterien reinmachst, damit sie auch vierundzwanzig Stunden durchhalten.“ Marie-Sophie antwortete nicht. Sie war jetzt seit drei Jahren in der Praxis und meistens war sie diejenige, die das Gerät anlegte. Es war absolut nicht notwendig, dass Anke ihr sagte, woran sie zu denken hatte. Aber egal, nur weg nach hinten, ein paar Minuten verschnaufen, ohne den Drachen neben sich zu haben, der so unberechenbar war wie ein Vulkan mit dünner Kruste.
Sie ließ sich Zeit, nahm alle Utensilien aus den Schränken und ging hinterher noch auf Toilette, um weitere drei Minuten zu gewinnen. Auf dem Weg zurück schaute sie noch kurz ins Labor. Sie trank einen Schluck Wasser, denn dort war der Kühlschrank für Blutproben, Essen und Getränke. Die Flasche war fast leer. Leslie zwinkerte ihr aufmunternd zu. Sie hatte das Gespräch von vorhin wohl mitbekommen. Der Beistand tat ihr gut.
Marie-Sophie fragte sich, was Anke denn heute sonst noch alles einfallen würde. Sie war irritiert. Bis vor Kurzem hatte sie sich in der Praxis immer wohlgefühlt. Hatte geglaubt,
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