Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Ich kann nicht ohne ihn sein.
Zehn Jahre und viele unglückliche Romanzen später folgt der Tiefpunkt, der seelische Absturz. Der junge Freund, den Platen anbetet, trägt den unromantischen Namen Knöbel. Dieser Knöbel beschert dem Grafen die furchtbare Erkenntnis des Für-immer-Ausgeschlossenseins.
Ich habe heute das Fürchterlichste meines Lebens erfahren. Der Abgrund, an dem ich seit Jahren schwindle, hat sich noch einmal mit gräßlicher Tiefe vor mir aufgethan. Knöbel, gegen den ich, ich darf wohl sagen, die reinste, die innigste Liebe empfand, sagte mir heute mit wenigen dürren Worten, daß ich ihm lästig sei, daß ich ihm meine Freundschaft habe aufdringen wollen, daß ich jedoch meine Rechnung ohne den Wirt gemacht habe, daß er nicht die mindeste Neigung für mich empfinde, und daß ich ihn so bald als möglich verlassen solle. Ja, dies waren vielleicht noch seine mildesten Ausdrücke. Ich sage nichts über das Nähere; denn was wäre hier noch zu sagen, nachdem dieses gesagt ist? Genug, daß ich den Tod in der Seele trage. […] Ich werde einige Tage auf dem Lande zubringen; aber in welcherStimmung gehe ich dahin! Es ist nicht Knöbels Verlust allein, es ist die ungeheure Gewißheit, daß mich die Natur bestimmt hat, unglücksselig zu sein.
Das Unglück oder doch das Problematische scheint fast zum Diarismus zu gehören: Der glücklich im Augenblick Verweilende hat das Tagebuch nicht nötig. Das trifft auch auf die Tagebücher zu, die in dem Jahr einsetzen, in dem jene des Grafen abbrechen.
Die Karikatur der Ananas
1835, im Todesjahr Platens, begann der Dramatiker Friedrich Hebbel sein Tagebuch, das ihm postum noch größeren Ruhm eintrug als seine Theaterstücke
Judith
oder
Maria Magdalena.
Gottfried Benn und Brecht waren begeisterte Leser dieser Diarien, Kafka schätzte sie als eines der Bücher, die «beißen und stechen», und Arthur Schnitzler stellte ihren Verfasser noch über Nietzsche.
Die «Reflexionen über Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst», wie Hebbel es nannte, entstanden in einer Zeit, in der er keinen anderen Gesprächspartner hatte. Das Tagebuch ersetzte ihm die Zuhörer – kein Wunder, daß es so umfangreich geworden ist. Hebbelwar berüchtigt für seine stundenlangen Monologe. Mit erfreulichem Selbstwertgefühl erklärt er gleich zu Beginn der Aufzeichnungen, er lege dieses Heft «nicht allein seinem künftigen Biographen zu Gefallen» an. Die Zuversicht des in Schleswig-Holstein geborenen Maurersohns, der erst durch eine reiche Ehe in Wien den bitterarmen Verhältnissen entkam, die zu seinem Tode im Alter von nur fünfzig Jahren beitrugen, ist erstaunlich. Und ebenso erstaunlich ist das Tage- oder, wie er selbst es nannte, «Notenbuch» seines Herzens, das diejenigen Töne, welche sein Herz angebe, zu seiner Erbauung in künftigen Zeiten aufbewahren sollte.
Man darf sich durch die Rhetorik der Herzenstöne nicht täuschen lassen. Wie schon bei Platens Tagebuch viele Passagen ins Dichterische gleiten und deutlichen Formwillen beweisen, sind Hebbels Aufzeichnungen keineswegs natürlich rinnende Herzensergießungen. Es sind die Hefte eines Dramatikers mit der starken Neigung zum Aphorismus und zur Sentenz. Ein Priester habe den Erzbischof von Paris ermordet, schreibt Hebbel 1857 im Tagebuch und kommentiert: «Scheußlich». In der Kirche während des Amtes. «Scheußlicher». Sein Messer, zu lang, um in die Tasche zu passen, habe der Mörder unter einem großen Blumenstrauß verborgen. «Am Scheußlichsten!»
Man ahnt, daß sich diese Tagebücher aus der Hochzeit des Biedermeier gut zur Blütenlese eignen. Es gibt beiHebbel viele hübsche oder nachdenkliche Sätze, die mit «Der Mensch» beginnen und dann etwa ausführen: «Der Mensch hat freien Willen – d.h. er kann einwilligen in’s Nothwendige.» Oder: «Der Mensch will brutto geliebt werden, nicht netto.» Oder auch: «Der Mensch ist ein Blinder, der vom Sehen träumt.»
Sätze dieses Kalibers – eher etwas fürs Poesiealbum und jedenfalls nicht typisch fürs Tagebuch. Anders als der eigene Vorsatz es angibt, beschäftigen sich Hebbels Hefte gerade nicht mit privatem Seelenkrimskrams. Sie sind ein Werkstattbuch in der Schule des großen Aufklärers Georg Christoph Lichtenberg, voller Witz und Beobachtung, ein Traumtagebuch und ein Reservoir von komischen Geschichten. «Ein Pferd wird beschlagen; als der Schmied fertig ist, reckt auch der Frosch seinen Schenkel hin. (Serbisches
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