Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
ihm aber zu groß sei, wie es unter dem Eintrag vom 20. November 1921 wörtlich heißt?
Nun, an seelischem und körperlichem Leid herrscht in diesen Tagebüchern kein Mangel. Und anders als die Tagebücher Platens sind sie auch ohne jeden Willen zur Form – «without literary value», wie Thomas Mann auf das versiegelte Paket geschrieben hatte. Sie halten überwiegend die banalen Vorgänge des Tages fest und steheneher in der Tradition der Goetheschen Chronik als in der rousseauistischen der Seelenergießung. Ein paar zufällig herausgegriffene Proben:
Kaufte danach beim Konditor Pralinees und aß eine Schaumrolle für 1 Mark 75. (21.3.21)
Zu viel zum Thee gegessen; überladener Magen. Briefe geschrieben bis halb 8, dann noch etwas hinausgegangen zu Tiefatmungen. Feindseliges Nervositätsverhältnis zwischen dem Hunde Sambar und mir. Abendessen von Rühreiern und Spinat, den Frau P. sehr gut, mit Zusatz von Rahm und Eidotter bereitet. Bis 10 Uhr musiziert. Ließ die Arie des José 3mal spielen, indem ich den Text nachlas. Die Empfindung darin sehr stark. (4.5.21)
Ein geschlechtlicher Anfall gestern, einige Zeit nach Schlafengehen, hatte sehr schwere nervöse Folgen: Große Erregung, Angst, andauernde Schlaflosigkeit, ein Versagen des Magens in Form von Sodbrennen und Übelkeit. (16.5.19)
Muß
man das wissen? Muß er das noch wissen, wenn er es später nachliest? Warum schreibt er das alles?
Fertigte wieder ein paar Ansichtskarten aus. Ging dann bei aufgehelltem Wetter langsam spazieren. Reizend die zahmen Eichhörnchen an dem nachihnen benannten Weg. Eins kam auf mein Locken und kratzte mir den Handschuh. Traf K., die von der Ski-Wiese zurückkehrte und setzte mit ihr den Spaziergang fort. Nervosität über einen unbequemen Pfad.
Ein weiteres willkürlich herausgegriffenes Beispiel dafür, was auf diesen vielen tausend Seiten ausgebreitet wird, ein Beispiel für den Singsang und Ton. Wenn an dieser Stelle aber ein Geständnis erlaubt ist: Der Verfasser opferte für diese Tagebücher die Hälfte seiner Bibliothek. Der schwer oder gar nicht zu beschreibende Zauber dieser fast durchweg banalen Notate ist unwiderstehlich. Wer in Thomas Manns Tagebüchern blättert und sich nicht festliest –
Heute bedeckt und kühl. Man hat die Heizung wieder in Gang gesetzt. Telephonarbeiter im Haus, davon einer mit Hasenscharte. (4.10.33) –
wer sich in diesen Tagebüchern nicht festliest und ihrer zarten Komik nicht verfällt, dem kann man gewiß keinen Vorwurf machen; aber das Beste von Thomas Mann hat er verpaßt. Ganz anders als bei Hebbel, der sich gerade in den Tagebüchern stilisiert, ist die Prosa ganz zurückgenommen, ganz ungestelzt und zeigt doch in jeder Zeile einen Autor, der mit der Sprache siamesisch verwachsen ist. Darum hat er sie, wohin er sich auch wenden mag, immerauf seiner Seite. Eine stete Quelle der Komik ist dabei seine beharrliche Fehlschreibung der meisten Namen – so, wenn er 1933 von dem Dirigenten «Fur
ch
twängler» schreibt. Der französische Komponist heißt bei ihm selbstverständlich «Ravelle». Aber noch ein wenig Kammermusik und Singsang mehr:
Luchs ist ein wenig begabtes, kriecherisches, sentimental-wollüstiges Tier, nicht sehr sympathisch; springt aber über den Stock. (13.4.20)
Ein Buch kam: «Die Auferstehung der Metaphysik» von Dr. P. Wust. Kein glücklicher Name für einen Philosophen. (3.5.20)
W.[alter] stellte mich nach Schluß dem Prinzen Ludwig Ferdinand vor, der «Jessas, den Namen kenn’ ich!» krähte und uns in seinem gut nach Leder riechenden Auto nach Hause fuhr. (28.6.19)
Merkwürdig die Äußerung Suhrkamps, des Redakteurs der Rundschau, die Sache werde mit der Aufteilung Deutschlands enden. (6.9.33)
Wer sagt, nach Hebbel gäbe es keine Propheten? Aber wir müssen es dabei bewenden lassen, so reizvoll die Zitatenlese bei Tommy immer wieder ist. Schließlich gilt es zwei Fragen zu beantworten: Warum schreiben die das alles? Und warum lesen wir es so gern?
Eiche der Gelehrsamkeit: Gustav René Hocke
Womit es Zeit für ein zweites kleines Geständnis wird. Die Frage, warum man Tagebücher schreibe, hat bereits einen Bearbeiter gefunden, mit dem man besser nicht konkurriert. Es gibt ein knapp tausendseitiges Werk, das sich ausschließlich den europäischen Tagebüchern widmet, eine Pionierstudie, ein Klassiker der Philologie: Gustav René Hockes 1978 veröffentlichte Schrift
Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten.
Im Schatten dieser knorrigen Eiche
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