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Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Titel: Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Entwarnung. Der Koffer mit den Tagebüchern war sicher in Lugano angelandet.
    Bedeutende u. tiefe Erleichterung. Das Gefühl, einer großen, ja unaussprechlichen Gefahr entgangen zu sein, die vielleicht keinen Augenblick bestanden hat.
    Was genau die Geheimschriften enthüllt hätten, ist unbekannt; die frühen Tagebücher hat Thomas Mann später vernichtet. Mit der Beseitigung belastender Schriften folgte er dabei einem geübten Verfahren. Schon bei den ganz frühen Tagebüchern hatte es Autodafés gegeben. Im Jahr 1896 – da war er einundzwanzig – hatte er seinem Freund Otto Grautoff geschrieben, er habe es dieser Tage bei sich ganz besonders warm. Er verbrenne nämlich seine sämtlichen Tagebücher. Warum?
    Weil sie mir lästig waren; räumlich und auch sonst … Du findest es schade? – Aber wo sollte ich sie auf Dauer lassen, z.B. wenn ich für lange Zeit verreise? Oder wenn ich plötzlich sanft hinüberschlummerte? Es wurde mir peinlich und unbequem, eine solche Masse von geheimen –
sehr
geheimen Schriftenliegen zu haben. […] Ich empfehle dir, eine ähnliche Säuberung vorzunehmen. Mir hat sie ordentlich wohl gethan. Man ist die Vergangenheit förmlich los und lebt nun wohlgemuth und unbedenklich in der Gegenwart und in die Zukunft hinein.
    Was den jungen Mann nicht daran hinderte, die Unsitte des Tagebuchschreibens bald wieder aufzunehmen. Ein Grund dafür dürfte sein, daß es ihm bis zu seinem sanften Hinüberschlummern, das noch sechzig Jahre vor ihm lag, nicht gegeben sein sollte, wohlgemut und unbedenklich in der Gegenwart zu leben – nein, unpassendere Adjektive sind diesem Autor selten unterlaufen.
    Sehr
geheime Schriften? Eben weil er seine späteren Tagebücher nicht verbrannte, liegen diese Geheimnisse heute zumindest teilweise offen. Es kann kaum einen anderen Grund dafür geben, daß er auch den Jugendvertrauten drängt, seinem Beispiel zu folgen und das Streichholz zu zücken, als kompromittierende Stellen über beider erotische Inklination.
    Aber war das wirklich, was er meinte, als er 1933 von dem Anschlage gegen die Geheimnisse seines Lebens schrieb? War es nur die Sorge um die Enthüllung seiner Vorliebe fürs Jungmännliche? Die hatte doch jeder halbwegs geübte Leser schon dem
Tod in Venedig
entnehmen können. Oder gab es noch tiefere Geheimnisse? Deutet dasWerk Thomas Manns sie an, durch das sich eine mal stärker, mal dünner laufende Blutspur zieht? Und was meinte Thomas Manns Tochter Erika genau, wenn sie von dem «Blaubartzimmer» im Lebensbau ihres Vaters sprach?
    Es ist hier nicht der Ort, dieser etwas unheimlichen Frage noch einmal nachzugehen. Sicher ist, daß Thomas Mann mit der Vernichtung der frühen Tagebücher alle Antworten ins Schattenreich der Spekulation verwies.
     
«Jessas, den Namen kenn’ ich!»
    Auch bei den späteren Wachstuchheften stand es einen Moment lang Spitz auf Knopf. Wieder spielte Thomas Mann mit dem Gedanken, seine geheimen Aufzeichnungen zu verbrennen. «Warum schreibe ich das alles?» vermerkt er im Tagebuch. «Um es noch rechtzeitig vor meinem Tode zu vernichten? Oder wünsche [ich], daß die Welt mich kenne?»
    Das eben war die Frage. Thomas Mann entschied sich, seine Tagebücher auf die Nachwelt kommen zu lassen. Die Verszeile August von Platens, die er anklingen läßt:
Es kenne mich die Welt, damit sie mir verzeihe,
mag den Ausschlag gegeben haben. Thomas Mann versiegelte die Hefte, die mit Ausnahme eines Bandes nicht vor das Jahr1933 zurückreichen, und versah sie mit einer Sperrfrist von zunächst 25 Jahren, die er später auf 20 reduzierte. Wahrscheinlich dachte er, seine Frau Katia ruhe dann schon in ewigem Frieden, schätzte ihre Robustheit aber zu kleinmütig ein. Katia wurde fast hundert und lebte noch, als die ersten Bände veröffentlicht wurden. Der Sohn Michael, der an ihrer Edition mitwirkte, las darin wenig Erfreuliches über sich. Man nimmt an, daß sein Freitod kurz darauf zumindest indirekt mit dieser Lektüre zusammenhängt.
    Auch für andere Leser war sie nicht der reine Genuß. Viele Thomas-Mann-Verehrer waren abgestoßen von dem kühlen narzißtischen Charakter, der sich in diesem Dokument enthüllte – kühl, wenn es nicht gerade ums Jungmännliche ging, dann stieg der Ton ins Enthusiastische. Dieser zagende, zaudernde, selbstzentrierte Melancholiker sollte ihr moderner Olympier sein? Jemand, der im Tagebuch notiert, daß er seelisch und körperlich darunter leide, daß Nr. 4 aller Unterkleidung ihm zu klein, Nr. 5

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