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Heute bin ich blond

Heute bin ich blond

Titel: Heute bin ich blond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie van der Stap
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Alarm schlägt, weiß man nicht. Jedenfalls hat sie bei den hinzugezogenen Pathologen – eine Sorte Professoren, mit denen, wie es scheint, keine Kommunikation möglich ist – für Uneinigkeit über meine Diagnose gesorgt. Aber wegen des Namens soll ich mir keinen Kopf machen, meint Doktor L., Hauptsache, die Behandlung wirkt. Und das tut sie.
    Doch das genügt nicht. Sie muss nicht nur wirken, sondern auch ausreichend wirken, so dass auch noch die letzte Tumorzelle aus meinem Körper verschwindet. Und mein Körper muss weiter durchhalten; denn ohne die richtigen Blutwerte keine Chemo. Erleichtert fühle ich, wie die Anspannung nachlässt, die ich bis vor ein paar Minuten noch so stark gespürt habe. Ich habe zwar gute Neuigkeiten erfahren, aber Doktor L.s Zimmer wird nie ein Ort sein, an dem ich mich entspannen kann.
    Mein Alter macht meinen Fall etwas rätselhaft unter all den Kindern und wirkt sich auch ungünstig aus, wie ich in meiner Krankenakte gelesen habe. Die Behandlung ist auf Kinderkörper abgestimmt, und Kinderkörper erholen sich schneller und besser als der Körper einer jungen Erwachsenen, wie ich im OLVG genannt werde. Dass ich die Behandlung gut überstehe, ist ein genauso harter Kampf wie der gegen die Krankheit selbst. Meine Blutwerte werden deshalb genauestens überwacht und sofort korrigiert, wenn sie die Referenzwerte überschreiten. Bluttransfusionen, also rote Blutkörperchen, gegen einen zu niedrigen HB -Wert, Leukozytentransfusionen für meine weißen Blutkörperchen und möglicherweise sogar Thrombozytentransfusionen für meine Blutplättchen. Konkret äußern sich meine Blutwerte in meiner Blässe und meiner Abgeschlagenheit, meiner geringen Widerstandskraft und den blauen Flecken, die bei einem Defizit an Blutplättchen entstehen, denn die spielen eine wichtige Rolle bei der Blutgerinnung. Auf dem Computertomogramm sind die Anomalien, von denen ich rede, nicht viel größer als ein Stecknadelkopf, in meinem Körper aber war der größte Tumor auf fünf mal zweieinhalb Zentimeter angewachsen. Davon ist jetzt noch die Hälfte übrig. Weil meine Tumorzellen so ungleichmäßig über mein Organ verteilt sind und weil dieses Organ meine Lunge ist, kann vorerst keine Operation durchgeführt werden. Vielleicht in einem späteren Stadium. Das bedeutet wahrscheinlich eine Option weniger, aber eine Behandlungsmethode außer der Chemotherapie gibt es trotzdem noch: die Bestrahlung.
    Dass die Chemo anschlägt, sieht man auch ohne die Aufnahmen, denn so langsam lege ich die verlorenen Pfunde wieder zu und komme wieder zu Kräften. Das Trügerische an einer Chemotherapie ist, dass sie den Patienten meist kränker aussehen lässt als die Krankheit selbst, auch wenn die Dinge in meinem Fall etwas anders liegen. Mein Körper gewöhnt sich allmählich an die neuen Drogen und erholt sich nach jeder Infusion ein bisschen besser. Doktor L. ist allerdings noch skeptisch; er befürchtet, ich könnte am Ende des Jahres als ein einziges Klappergestell durch seine Station wanken.
    Von meiner Erschöpfung nach einer Woche OLVG und meiner Kahlköpfigkeit abgesehen, wirke ich ganz gesund. Man sieht mir nichts an. Je kleiner meine Tumorfamilie wird, desto besser fühle ich mich. Es hat Angst und Gewichtsverlust, es hat Schweiß und Kotzerei gekostet, aber allmählich gewöhnt sich mein Körper an all das Neue, das ihm zugeführt wird, und man sieht immer mehr Sophie und immer weniger Krebs. Ich lerne die Wirkung meiner Medikamente besser kennen, und wenn ich die Tabletten gegen die Übelkeit rechtzeitig nehme, muss ich auch nicht mehr kotzen. Ich betrachte die Behandlung als einen seltsamen Freund – und nicht als einen bösen Feind –, der mit harter Hand dafür sorgt, dass ich wieder gesund werde. Wenn jemand schlecht von Chemotherapie spricht, schnauze ich ihn an. Es ist meine Krankheit, mein Kampf, mein Spielfeld, meine Stimme.
    Ich studiere jetzt nicht mehr bei den Politologen, sondern in der medizinischen Bibliothek des AMC . Endlich finde ich den Mut, meinen Todesängsten ins Auge zu sehen. Eine Kopie meiner Krankenakte begleitet mich überallhin – zum Ärger von Schwester Annemarie, die in ihren Pausen ständig am Kopierer steht. Jeder Arzt, der mir über den Weg läuft, wird etwas gefragt. Ich will alles wissen und verstehen, alles recherchieren. Auch meine Überlebenschancen, so banal es auch sein mag, sich anhand von Statistiken über die eigenen Chancen zu informieren. An dem Tag, an dem sich

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