Heute bin ich blond
»Ich-hab-keine-Lust-zu-duschen-ich-geh-ja-doch-gleich-wieder-ins-Bett«-Outfit mit hochgezogenen Knien auf dem Sofa: Pyjamatag. Erstaunlicherweise denken die Leute immer, dass ich, wenn irgend möglich, lieber ohne Perücke herumlaufe als mit. Dass ich, kaum bin ich zur Tür herein, meinen Kopf von dem lästigen Ballast befreie. So von wegen: Weg mit den Haaren!
Aber so ist es nicht. Ich vergesse, dass ich etwas auf dem Kopf habe, was da von Natur aus nicht hingehört. Ich habe mich sogar schon so daran gewöhnt, dass meine Perücken in einem Korb neben meinem Schmuck liegen, als wären sie schon immer dortgewesen. Sie sind zu einem Teil meiner Garderobe geworden. Mehr noch: zu einem Teil von mir.
Im Kimono und mit frisch rotlackierten Zehennägeln liege ich mit dem Laptop auf dem Schoß da, tippe und schaue gleichzeitig
Bridget Jones
. Ein Aha-Erlebnis nach dem anderen, auch für eine Zwanzigjährige. Diese Art Unterhaltung lenkt mich am besten ab von dem, was mir ständig im Kopf herumgeht: meine Kontrolluntersuchung am 31. März. Ich stehe auf und nehme Daisy ab. Während ich Sue heraussuche, streiche ich mit der rechten Hand über meinen Schädel. Es sieht zwar schrecklich aus, aber es fühlt sich gut an. Schön weich.
Bevor ich die Haare wechsle, betrachte ich noch einen Moment mein Spiegelbild. Meine Wangen haben sich zum Glück wieder aufgefüllt, das Hohle ist verschwunden. Ich versuche, mich schön zu finden, aber es geht nicht. Ich versuche, mich als ich selbst zu fühlen, aber auch das geht nicht. Schnell setze ich Sue auf und kuschle mich wieder aufs Sofa.
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Donnerstag, 31. März 2005
Tief einatmen und tief ausatmen, aber vor allem ganz still liegen. Meinen Schmuck muss ich wieder ablegen und diesmal auch den BH , aber den Pulli kann ich anbehalten, damit mir nicht kalt wird. Ich liege auf einem schmalen Tisch, der langsam in einen kurzen Tunnel fährt, so lang wie mein Oberkörper. Es geht um Thorax und Abdomen – Brustkorb und Bauch.
Acht Häkchen im Kalender.
31. März.
Prime Time.
Ich liege ganz still. In meinen Gedanken lasse ich die letzten zwei Monate Revue passieren, die ein Eigenleben geführt haben und dadurch sehr lang waren, trotzdem aber schnell vergangen sind. Ich fühle mich weit weg von dem Leben, das ich bis dahin geführt habe. So vieles hat sich verändert. Mein Alltag, aber noch mehr meine Zukunft. Ich muss schlucken, ganz vorsichtig, um die Radiologen nicht bei der Arbeit zu stören. Es dauert nicht lange, zehn Minuten vielleicht, alles in allem aber eine gute halbe Stunde. Das Anlegen der Infusion mit dem Kontrastmittel, das in mich hinein muss, klappt nicht auf Anhieb. Ich hätte schwierige Venen, heißt es, sie lägen besonders tief. Aber nach allem, was ich so höre und lese, sagen sie das bei jedem. Die haben einfach nicht genug Übung. Erst mal sollten sie sich gegenseitig anzapfen, ehe sie mich mit fünf blauen Flecken wieder wegschicken.
Doktor L. will mich noch vor dem Wochenende anrufen, um mich nicht ein ganzes Wochenende im Ungewissen zu lassen. Ich weiß nicht, ob ich das so gut finde. Ein Wochenende Hoffnung ist mir lieber als zu wissen, dass mir ein Wochenende weniger bleibt.
Sechs Uhr, das Telefon klingelt. Normalerweise gehe ich nicht ran – die gutgemeinte Anteilnahme wird mir einfach zu viel –, aber ich stehe gerade daneben, und ehe ich mich’s versehe, ist der Knopf schon gedrückt. Als ich die Stimme am anderen Ende höre, beschleunigt sich mein Atem erst, dann stockt er, und schließlich breche ich am ganzen Körper in Schweiß aus: Es ist Doktor L.
»Also, Sophie, ich hab mir die Aufnahmen gleich angesehen. Der offizielle Bericht steht noch aus, aber …« Es folgt ein langer Sermon, der mich nicht interessiert. Doktor L. scheint vergessen zu haben, dass ich die Patientin bin und seinen wissenschaftlichen Enthusiasmus nicht teile. Meine Welt schrumpft auf die eine Ecke in der Küche zusammen, in der ich soeben den Hörer abgenommen habe. Alles verstummt: das Gespräch meiner Mutter mit der Nachbarin, die vor drei Minuten mit frischen Blumen vor der Tür stand, aber auch die Straßengeräusche. Nur noch mein Atem und Doktor L.s Stimme sind zu hören.
»Ist das gut?«, frage ich gespannt.
»Ja, Sophie, das ist gut.«
Ein langer, tiefer Seufzer. »Bist du zufrieden? Froh?«
»Ja, Sophie, ich bin sehr froh.«
Gekreische in der Küche des Hauses van der Stap.
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Montag, 4. April 2005
Zu meinem Glück gibt es genug
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