Heute bin ich blond
dann auch hier mein Akku aufgibt und meine neue Beschäftigung die Langeweile nicht mehr vertreibt, verlasse ich den stillen Raum und gehe im Zeitlupentempo, wie ein Jünger, der dem Meister folgt, auf die einladenden Türen des Aufzugs zu. Zum Ende des Flurs.
Meines Flurs.
Zum Licht.
Meinem Licht.
Dort angekommen, steige ich ein und löse eine einfache Fahrt nach oben. Oder doch Hin- und Rückfahrt? Mein langer Freund sagt ja. Im zweiten Stock hält der Lift, und die Türen gehen langsam auf. Herein kommt zu meiner Freude mein weißer Lieblingskittel mit Doktor K. darin. Er sieht mich freundlich und ein bisschen verschmitzt an und stellt sich dicht hinter mich, obwohl wir die Kabine, in die zwei besetzte Tragen samt Personal passen, nur mit zwei kakelnden Krankenschwestern teilen. Sie unterhalten sich über das Betriebsfest am kommenden Wochenende, und ich frage mich, ob ich dort Doktor K. treffen könnte, ohne Uniform. Bestimmt sieht er ohne besser aus als mit.
Ich spüre seinen Atem im Nacken. Leichte Transpiration meinerseits: am Rücken, unter den Armen, zwischen den Fingern. Der Nachtschweiß ist vorbei, aber das Schwitzen nicht. Vor drei Monaten kam es von den Tumoren, jetzt kommt es von meiner anhaltenden Verliebtheit in Doktor K.
Im dritten Stock hält der Lift von neuem und öffnet den kakelnden Schwestern seine Türen. Ich kenne ihre Route allmählich, so oft habe ich den Weg zur C6 und meiner alten Station A8 zurückgelegt. Er führt erst an der Radiologie vorbei, dann über die Neugeborenenstation zur Kardiologie und Chirurgie, dann kommt notgedrungen ein Halt in der Onkologie, und weiter geht es zur Neurologie und zur Abteilung für Lungenheilkunde und Orthopädie im achten Stock, im Volksmund auch Doktor K.s Station genannt.
Die Schwestern verschwinden um die Ecke, und die Spannung in meinem Bauch steigt. Ich habe noch drei Stockwerke vor mir, Doktor K. noch fünf. Mit etwas Glück behält der Aufzug sein Tempo bei und braucht auch heute gut vier Minuten dafür. Vier Minuten allein mit Doktor K., hinter verschlossenen Türen. Ich spüre seinen Atem. Nicht nur im Nacken, sondern auch an den Ohren und seitlich am Hals. Mein weicher Flaum sträubt sich erschrocken. Alles in mir beginnt zu glühen. Ich musste viel Schlimmes dafür durchmachen, aber jetzt bin ich endlich mittendrin, in meiner ultimativen Arztphantasie.
Unbehaglich stehen wir hintereinander. Schließlich unterbricht er den Rhythmus des Atmens und erkundigt sich interessiert nach dem Zustand meines Körpers, speziell meiner Lunge. »Du hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt.«
Ich drehe mich um und lächle verlegen. »Mein Onkologe ist so ruppig.«
Doktor K. lacht fürsorglich und sagt, ich sei bei Doktor L. in guten Händen. »Und ich behalte dich auch im Auge.«
»Kommst du ab und zu auf die C6?« Der Aufzug wird langsamer. Doktor K. nickt, beugt sich vor und gibt mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Es ist eine schöne Reise, die mich an allerlei fremden Welten vorbeiführt. Wir schweben aufwärts. Ich steige höher und höher, komme meinem Ziel immer näher.
Ping.
Die Türen gehen auf, ich erwache aus meiner Traumreise und lande in dieser endlosen Langeweile. Der endlosen Langeweile, die mich dazu gebracht hat, die weiße Architektur der Kapelle und des Betraumes für Muslime zu studieren. Der Langeweile, die mich die Stille aufsuchen und genießen ließ. Der Langeweile, die mich träumen lässt.
SECHSTE ETAGE , ONKOLOGIE lese ich durch die geöffneten Türen. Ich bin wieder in meiner Wirklichkeit: der Ausgemergelte-Körper-Schrägstrich-kahle-Köpfe-Station. Mit warmem Bauch verlasse ich Doktor K.
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Samstag, 21. Mai 2005
Die Sonne scheint. Auch außerhalb des OLVG . Ich brauche gar nicht erst die Augen aufzumachen, die Wärme brennt durch meine geschlossenen Lider. Die Woche Krankenhaus ist geschafft, und ich will nach draußen. Ich öffne die Augen und schaue auf die Uhr meines Handys, das irgendwo im Bett mit mir eingeschlafen ist: halb eins. Aufstehen, rufen die Farben vor meinen Fenstern.
Ich finde es herrlich, von der grellen Sonne wachgebrannt oder von einem sachten Regen aus dem Schlaf getropft zu werden. Für mich gibt’s keine Wecker mehr, nur Zeit für mich selbst. Keine Listen, keine Verpflichtungen, keine Verabredungen. Blanko. Leer. Ruhe. Luxus. Genießen und Krebs kommen einander ziemlich nahe.
Ich stelle mich unter die Dusche und seife mich von Kopf bis Fuß ein. Aber ohne
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