Heute bin ich blond
Eile. Neugierig betrachte ich die Frauen auf dem Duschvorhang. Es sind eine ganze Menge, alles Schönheiten, jede mit anderen Brüsten. Ich sehe genau nach, ob meine auch dabei sind, klein, rund, mit Hohlwarzen, jedenfalls wenn ich nicht unter der Dusche stehe. Ich finde sie an einem Mädchen mit langen Locken, hochgereckten Armen und gesenktem Kinn. Ich lasse das Wasser kalt werden und bleibe noch einen Moment darunter stehen. Wegen der Durchblutung.
Abtrocknen und schminken. Ich setze Daisy auf, strecke die Arme in die Luft und schiebe die rechte Hüfte vor. Ich schaue in den Spiegel und sehe das Mädchen vom Duschvorhang. Heute bin ich Daisy.
Halb zwei: Zeit zum Brunchen. Ich brate ein Spiegelei und betrachte es. Das Weiß wird immer weißer, das Gelb immer gelber. Die Zeit des Multitasking ist vorbei. Mein Leben als Invalide hat begonnen.
Nachdem ich den letzten Happen von meinem Ei gegessen habe, suche ich in meinem Handy Robs Nummer. Keine Antwort. Wahrscheinlich filmt er gerade mit Piet Paulusma Wolken. Aber Annabel meldet sich, und wir verabreden uns in einer Stunde im Finch, einer Kneipe am Noordermarkt. So bleibt mir noch genug Zeit, um meine Haare zurechtzumachen, Doktor L. zu mailen und ihn über Stechen und Kribbeln zu informieren – seit ich in Behandlung bin, kann ich die Stiche, die meine Tumoren aussenden, nicht mehr von dem Gefühl unterscheiden, das die Chemo in meinem Körper hervorruft – und mich auf die Suche nach einer Alternative für braune Arme, Beine und Wangen zu machen. Ich meide die Sonne, weil sie Pigmentflecken verursachen kann. Wofür eine Chemo nicht alles gut ist.
Zwischen den Sonnenstudios in der Haarlemmerstraat treffe ich Michelle. Wir unterhalten uns über Krebs und Braunsein. Sie ist vor kurzem an Brustkrebs operiert worden und kann ein Lied davon singen, auch wenn von ihren großen Titten nichts weiter fehlt. Für mich ist sie Anita, für sie bin ich Daisy. Man kommt viel leichter ins Gespräch mit diesen langen blonden Locken.
So was Liebes, denken wir beide.
So eine Scheißkrankheit, ohne Braunwerden, denken wir auch beide.
Im Weitergehen fällt mir ein Gespräch ein, das ich vor Monaten hatte, noch ehe das ganze Elend anfing. Ein Freund meinte, ich fände einfach alles schön. Das hat sich mir eingeprägt. Auch jetzt noch habe ich gemischte Gefühle deswegen. Es fällt mir schwer, die schönen Dinge von den hässlichen zu trennen.
Ich finde wirklich alles schön. Naja, ziemlich viel jedenfalls. Ich mag frisch aus dem Schrank geholte zerknitterte Hemden mit einem Stoppelbart darüber. Aber ich mag auch ordentlich gebügelte Armani-Hemden, dazu passende Slipper und die dazugehörigen weißen Zähne. Ich mag Großstadtindianer, aber ich mag auch Hinterwäldler. Ich mag den vergammelten Studenten, ich mag den hippen Kosmopoliten, ich mag den glatten Côte-d’Azur-Typ. Ich mag den Philosophen, der mit dem Rauch seines Joints seine Ideen hinausbläst, ich mag den knackigen Fitnessfreak ohne Ideen. Ich mag Doktor K. Ich mag Liam Neeson im engen Shirt, aber auch als Schindler. Ich mag Männer und Männer.
Jetzt, wo ich Krebs habe, darf ich alles hassen. Überall dagegentreten, jeden anmotzen, alles ablehnen. Einundzwanzig und Krebs. Das Leben ist nicht mehr mein Freund, sondern mein Feind. Mein erster Feind. Mein erster Hass. Mein erster wirklicher Pessimismus. Aber der Krebs ist auch mein Freund geworden. Durch den Krebs kann ich intensiv fühlen, intensiv genießen, intensiv erleben, intensiv mit beiden Beinen auf der Erde stehen, intensiv allein sein und intensiv glücklich sein. Ich mag zerknitterte Hemden und ordentlich gebügelte Armani-Hemden, Großstadtindianer und Hinterwäldler, vergammelte Studenten, hippe Kosmopoliten und glatte Côte-d’Azur-Typen, Philosophen und Fitnessfreaks, Doktor K. und Liam Neeson, Männer und Männer. Der Krebs hat mir Jurriaan geschenkt und einen Gemüsehändler, der mir Rote Bete, gelbe Kiwis und Bananen sorgfältig aussucht. Einen Blumenhändler, der mir, wenn ich gerade nicht hinschaue, eine lila Orchidee in die Tüte steckt. Und verdammt, wieder gelingt es mir nicht, alles zu hassen, alles intensiv zu hassen. Diese furchtbare Ungerechtigkeit, diese schreckliche Einsamkeit, diese irreale und doch so reale Angst. Und verdammt, ich habe einen neuen Freund. Einen neuen besten Freund: den Krebs. Ich selbst, mein eigener bester Freund. Verdammt, ich finde wirklich alles schön.
»Eine Titte über der Titte, stell dir das
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