Heute bin ich blond
Krankenhaus verbracht hat. Dort saß ich dann mit der ganzen Familie, führte ein albernes Gespräch und war im Grunde gar nicht bei der Sache. Übermacht und Unbehagen. Derjenige, der im Bett liegt, fühlt sich noch am wenigsten unbehaglich.
Und jetzt bin ich diejenige. Deshalb habe ich mich entschieden, nur wenige Vertraute an mein Bett zu lassen, und nicht, nur um die Zeit totzuschlagen, alle um einen Besuch zu bitten. Nur Familie, gute Freunde und Leute, die es gut mit mir meinen und mir dadurch immer näher rücken. Diese Verlegenheit an meinem Fußende, das muss ich echt nicht haben. Da bin ich lieber allein und befasse mich mit Lance, der auch an so einem Ort an so einem Tropf hing und ähnlich gedacht hat. Mein Lance Armstrong. Um die Zeit totzuschlagen, hat er ganze Eimer vollgekotzt. Mir sind Schreiben, Sudokus und ein Arzt mit K und einem Stethoskop lieber. Lance ist wieder aufs Rad gestiegen und hat die Tour de France gewonnen, ich gehe wieder ans Ende des Flurs und mache einen kleinen Extraspaziergang. Ich bin zwar kein Radrennfahrer, aber nach vorn schauen kann ich auch. So wie Lance. Lance, mein Vorbild, mein Idol, mein Freund.
An allzu vielen Leidensgenossen habe ich keinen Bedarf. Einem Raum voller kahler Krebsköpfe oder einem Besinnungswochenende auf einem spirituellen Schloss in Amersfoort. Legt mir einfach Lance Armstrongs Buch aufs Kopfkissen. Aber ich habe mir diverse Websites angesehen. Websites über Krebs, vor allem über junge Menschen und Krebs. Es kann ziemlich einsam sein, ganz allein Krebs zu haben. Die anderen tun weiterhin Dinge, die bis vor kurzem auch für mich noch wichtig oder gar entscheidend waren. Und ich liege hier, schiebe meine plötzlich auftauchenden Sekundärbedürfnisse auf und überlebe ein bisschen. An einem albern blubbernden Schlauch.
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Freitag, 20. Mai 2005
»Ja, wen haben wir denn da? Was willst du? Wieder mal Doktor L. nerven mit deiner Fragerei? Und wen hast du da bei dir? Ist das dein Mann?« Annemarie kommt grinsend hinter ihrem Schreibtisch vor.
Ich drehe mich um. Hinter mir steht ein zerfurchter grauer C6-Patient, der es wohl nicht mehr lange machen wird. Reizend, diese Annemarie.
Ich habe Doktor L. schon mehrmals gefragt, ob es was ausmacht, wenn ich nicht wie eine deprimierte C6-Gefangene herumlaufe, trotz meiner ungewissen Prognose. Die Antwort war nein, zum Glück.
In meiner vertrauten Ambulanz kann ich trotz allem Spaß haben; Annemarie und Ploni, die beiden Schwestern, bringen mich immer zum Lachen. Ich dachte, ich sage ihnen mal eben guten Tag, zusammen mit meinem langen Freund, einfach um die Langeweile meiner vierten Krankenhauswoche ein wenig wegzulachen. Wenn Annemarie mich über ihre peinlichen Abenteuer ins Bild setzt, vergesse ich sofort, wo ich bin; einmal ist sie in Granada mitsamt ihrer Kamera rücklings in den Brunnen der Alhambra geplumpst.
Auf dem Rückweg zur C6 komme ich an der Klinikkapelle vorbei und beschließe, meinem Freund Jesus guten Tag zu sagen. Er ist ja immer da. Ich statte ihm jetzt regelmäßig einen kurzen Besuch ab. Nicht in der heuchlerischen Absicht, endlich an meiner Freundschaft mit Gott zu arbeiten, sondern in der ehrlichen Absicht, meine Langeweile im OLVG wegzubeten. Zusammen mit meinem piepsenden Infusionsständer stehe ich in der – natürlich weißen – Kapelle, und Jesus blickt auf mich herab. Leise, um die Stille nicht zu stören, gehe ich zu ihm und zünde eine Kerze für das allgemeine Wohl an. Und auch eine für mein Glück, aber das tue ich im Namen meines langen Freundes, denn ich kann ja nicht eine für mich selbst anzünden, wie mir Jesus mit seinen ernsten Augen zu sagen scheint. Dann setze ich mich in eine der – natürlich weißen – Bänke. Einfach um eine Weile zu sitzen. Denn als Atheistin oder Agnostikerin oder beides zu beten, das geht nicht. Ich schaue vor mich hin und versinke in tiefe, schöne Gedanken, bis mein Mitkirchgänger mich brutal wachpiepst. Gehorsam stehe ich auf und schließe mich an die nächstbeste Steckdose im Wandelgang an. Ich betätige meine Pumpe, dann kehren wieder Stillstand und Ruhe ein.
Wenn mein langer Freund genug für einen weiteren Spaziergang aufgeladen ist, gehe ich in den Betraum für Muslime. Wir leben ja in einem offenen Land, und soviel ich weiß, ist im Land der Araber jetzt Wochenende. Ungeschickt binde ich mir meine Jacke um den Kopf und kauere mich auf die Knie. Vielleicht kommen mir irgendwelche Eingebungen und Erkenntnisse. Wenn
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