Heute bin ich blond
Annabel brät neben mir. Um auch ein bisschen braun zu werden, muss ich mich diesen Sommer aus der Flasche sonnen. Flaschen. Überall sehe ich Flaschen, die mir gleichmäßige Bräune versprechen. Alles Mögliche habe ich schon ausprobiert: Bräunungsschaum, mit Gummihandschuhen aufzutragen – die werden in der onkologischen Abteilung immer knapp –, Bräunungsspray und -lotion.
Vom Wasser aus betrachte ich das Schauspiel der vielen Boote. Die Segel sind noch genauso weiß, das Meer ist noch genauso blau. Ich schaue auf die spiegelnde Wasserfläche, und das OLVG ist nirgends zu sehen. Ich schaue noch länger, noch weiter, und auch mein Alptraum ist nirgends zu finden. Ich schließe die Augen, aber auch da ist nichts. Ich bin weg von allem, und alles ist vergessen. Als ich die Augen wieder aufmache, sehe ich Boote, Boote, nichts als Boote.
»He, was ist denn das?« Annabel zeigt auf etwas, das ein Stück entfernt im Wasser schwimmt. Es treibt immer weiter ab.
Ich liege auf dem Rücken im Boot und lausche den Wellen.
»Hattest du nicht eine Perücke auf?«
»Shit, das ist Blondie!«
Der blaue Himmel wird langsam rosa, die ersten Boote kehren heim, die ersten Lichter tauchen auf. Und unsere Highheels. Wir landen auf einer Party im Garten der Villa eines stinkreichen amerikanischen Filmmagnaten in den Bergen hinter Saint Tropez. Durch Zufall – im richtigen Moment im richtigen Garten.
»Champagner? Nein, lieber Tomatensaft, ja, schön, mit Zitrone.«
Zwischen langbeinigen Russinnen und kurzgewachsenen Arabern lasse ich mich gehen. Schön, so ein Gartenfest. Obwohl ich mich etwas deplatziert fühle, wenn mir der Chemoschweiß über den Rücken läuft und meine Perücke so niedlich in ihrem eigenen Rhythmus mittanzt. Zum Glück noch kein Dekolleté rechts, das braun gegen ein Dekolleté links absticht. Ich werde Doktor N. mal sagen, er soll meinen linken Thorax nicht links liegenlassen bei seinen Berechnungen.
Eine Parade der teuersten Geländewagen und der größten Yachten an der Riviera. Wir sehen Paris Hilton und eine Unmenge anderer sonnengebräunter Leiber. Die längsten Beine und die raffiniertesten Sandaletten. Allenthalben Röcke aus der
Vogue
. Zahllose schöne Frauen und ein paar schöne Männer. Ein alter Cowboy aus Los Angeles. Ivana Trump, Catherine Deneuve und Natalia Vodianova. Annabel und ich spiegeln uns in einer großen Sonnenbrille und lachen uns an.
Um zwei Uhr nachts sind wir müde. Ich wegen meiner niedrigen Blutwerte, Annabel wegen ihrer komplizierten Highheels. Wir lassen uns auf der Treppe zum Balkon nieder und sehen uns all das Schöne an, was da vorbeikommt.
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Mittwoch, 10. August 2005
Rob steht hinter mir und gibt mir einen dicken Schmatz. Wir sind im Health Store – zu erkennen an den erschreckend großen Nahrungsergänzungspräparaten und den Chinesen.
Ich lese ein Faltblatt über Frauen in den Wechseljahren. Die unter Nebenwirkungen aufgeführten Hitzewallungen gleichen beängstigend denen, die mich seit einigen Wochen heimsuchen. »Die Wechseljahre – auch Klimakterium genannt – liegen meist zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr der Frau. In dieser Phase tritt eine Reihe von Veränderungen im Hormonhaushalt ein. Bei mehr als der Hälfte der Frauen in unserem Land verursachen diese Hormonschwankungen sowohl körperliche als auch emotionale Beschwerden, die sogenannten Wechseljahresbeschwerden. Die Skala reicht von Hitzewallungen, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit bis hin zu Reizbarkeit, Nervosität und Niedergeschlagenheit.«
Au … Da ist von ausgebluteten Frauen wie mir die Rede. Gerade mal zweiundzwanzig. Ausgeblutet. Von wegen zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr. Mein magisches Kräuterbuch verordnet Anis, das kann die Menstruation wieder in Gang bringen. Wir bestellen gleich eine große Tüte voll.
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Freitag, 12. August 2005
»O Gott, ich hab schon wieder einen!«, rufe ich von der Rückbank nach vorn.
»Möchtest du eine Tablette?«, fragt Rita. »Meine schmecken viel besser, haha.« Schwitzend und grinsend sitzt sie am Steuer.
Ich schwitze auf der Rückbank ihres Mercedes und frage mich, ob Doktor N. oder Doktor L. oder Doktor K. meine neuerlichen Schweißausbrüche in ihrer Liste der Nebenwirkungen aufgeführt haben. Kein Lämpchen leuchtet auf, außer dem, dass man von der Behandlung unfruchtbar werden kann. Rita schluckt Pillen gegen das Schwitzen, ich schlucke Pillen, die mich ins Schwitzen bringen. Schwitzen auf der Rückbank lasse
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