Heute bin ich blond
die Akte, die er aufgeschlagen in den Händen hält, und verschwindet wieder in seinem Zimmer, ohne mich aufzurufen.
»Van der Stap?«
Ich sehe mich um. Noch eine Tür hat sich geöffnet. Ich stehe auf und gebe der dritten Erscheinung die Hand. »Doktor O.« steht über seiner Brusttasche.
Er hält mir einen wirren, nicht allzu positiven Vortrag. Um seine Unsicherheit zu überspielen, fertigt er eine Skizze meiner Lunge an und zeichnet große Pfeile an die Stellen, die bestrahlt werden müssen. Dann stellt er mich auf die Waage und untersucht auf seiner Werkbank meine Drüsen. Die Waage zeigt fünfundfünfzig Kilo. Ein Kilo weniger als vor einem Monat.
»Mir ist da einiges noch nicht ganz klar. Die Sache wird schwierig, so viel steht fest. Ich werde mit meinen Kollegen in Rotterdam und Utrecht Kontakt aufnehmen, ehe ich eine Entscheidung treffe. Ich möchte noch gern hören, was die dazu sagen. Doktor N. in Rotterdam ist ein sehr guter Arzt.«
Ich bin alles andere als beruhigt, als ich das Zimmer verlasse. Warum können die einem nie ein bisschen Mut machen?
Ich drehe mich auf dem inzwischen wohlbekannten Stuhl um mich selbst. Eines der Mädchen, die in dem Laden arbeiten, schneidet Oema sorgfältig die Haare. Nur die Spitzen.
Martijn, mein guter Freund, der alle meine neuen Köpfe mit der Kamera festhält, hat auf ein Bier vorbeigeschaut, als ich gerade vom AMC zurück war. »In den Perückenladen? Ja, prima.«
Vergnügt geht er zwischen den ausgestellten Köpfen umher und kommt mit den scheußlichsten Frisuren zurück, schließlich aber auch mit einer schönen blonden. Da ist Oema wieder. Und da ist Pam. Pam, das naive Blondchen aus Hollywood. Aber auch »Pam, deine Haare tanzen« aus der Andrelon-Reklame. Und vor allem »Pam – eine tolle Frau« und, nicht zu vergessen, »Pam – frisch vom Frisör«.
Schon meine Tante wusste es: Eine Frau steht und fällt mit ihren Haaren. Ich weiß es auch. Mit Pam stehe ich, mit Stella falle ich.
Martijn fährt ein Cabrio, einen Japaner zwar, aber die Haare fliegen schön im Fahrtwind. Bei jeder Kurve, jeder Brücke und jedem Hubbel schwingt Pam ganz natürlich mit. Ich kann es kaum erwarten, wie Rob reagiert, wenn ich ihn heute zum siebten Mal mit einer neuen Perücke überrasche.
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Mittwoch, 6. Juli 2005
Ich lese einen Brief, den ein Vater auf dem Sterbebett an seine drei Kinder geschrieben hat.
Den Drang, die eigenen Worte zu Papier zu bringen, verstehe ich sehr gut. Man will ein Stück von sich zurücklassen, um weiter dabei zu sein. Nicht nur in den Gedanken der anderen, auch ganz konkret. Man hat Angst davor, nicht mehr zu existieren. Nicht mehr angefasst werden zu können.
Es scheint, dass meine Angst mit dem Verstreichen der vierundfünfzig Wochen exponentiell zunimmt. Mit meiner Grabrede, von meinem Vater stockend verlesen, kann ich Stunden verbringen. Angst vor einer einzelnen dummen Krebszelle, die irgendwo hängenbleibt. Mehr Angst sogar als zu der Zeit, als alles noch völlig offen und keine Rede davon war, dass ich wieder gesund werden könnte, als es nur hieß, ich sei todkrank. Jetzt müsste alles schon passiert sein.
Manchmal versuche ich die Angst wegzudrücken, indem ich mir klarmache, wie viele Menschen mir schon vorausgegangen sind. So einsam kann das Jenseits nicht sein. Einsamkeit – die fürchte ich am meisten, die ist für mich das Unheimlichste an dem ganzen Prozess. Warum können wir nicht alle gleichzeitig sterben? Ich surfe auf die Website meines Freundes Lance und kaufe hundert gelbe Bändchen. Indirekt habe ich ihm sehr viel zurückzuzahlen, unendlich viel mehr. Hundert gelbe Dollar, die den Kahlköpfen das Leben erleichtern können. Ein bisschen viel, aber die Zehn steht so dumm neben der optionalen Hundert, und tausend Dollar habe ich nun auch wieder nicht. Ich klicke CONFIRM an – an meinem eigenen Schicksal baue ich gern mit.
Im A Tavola trinken Rob und ich Wein mit Salvatore, dem Geschäftsführer. Der heutige Tag geht als derjenige in mein Tagebuch ein, an dem mein Schatz und ich uns das berühmte Live-Strong-Armband übers Handgelenk streifen. Wie heiraten, nur anders. »Live Strong« – für mich als Krebspatientin Worte, bei denen man vielleicht sterben kann. Für die anderen, für alle, die ich liebe, Worte, bei denen man weiterleben kann.
Ich schaue Salvatore, der das Band trägt, um dabei weiterzuleben, gerade in die Augen. Das Band, das sein Sohn Marco eingelöst hat, als er im November an
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