Heute bin ich blond
besser und kompletter gefühlt hat. Das stelle ich auch an mir fest und auch an Chantal, aber Angst haben wir trotzdem. Angst, bald ganz allein zu sterben.
»Einatmen, Luft anhalten und ruhig wieder ausatmen«, witzelt Chantal, als sie die Tür hinter sich zuzieht und mich in eine acht Monate alte Illustrierte vertieft vorfindet. »Maxima ist schwanger«, lese ich. »Ein Geschwisterchen für Amalia. Was es wohl wird, blau oder rosa?«
Zu Hause wechsle ich meine Haare und sehe mir noch einmal genau meine Augen an. In den letzten Tagen sind meine Wimpern unmerklich wieder ein bisschen gewachsen. Ich klebe mir meine längsten falschen Wimpern an, die mit dem Goldglitzer, und entscheide mich für Oema. Das Gold ist mir blond genug für den Abend.
An der Bar klimpere ich ein bisschen mit den Wimpern. Vergnügt kommt Quincy heran und legt mir den Arm um die Schultern. »Pfefferminztee?«
»Zwei bitte.« Ich bin inzwischen um einen Freund reicher, der freitagabends gern wie ich literweise Pfefferminztee und Wasser in sich hineinschüttet.
Quincy lässt seinen Arm wohlmeinend über meinen Rücken abwärts gleiten und nimmt dabei Oema mit. Meine Perücke hängt mir am Rücken. Ich erröte. Quincy hilft mir, sie schnell wieder aufzusetzen und zurechtzurücken, und tröstet mich damit, dass niemand etwas gesehen habe. Wir müssen beide laut lachen.
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Freitag, 10. Februar 2006
Auf dem Weg zu meiner letzten Chemo denke ich daran, dass ich heute das vierundfünfzigste Häkchen machen durfte. Vierzig Minuten brauche ich zu Fuß zum Krankenhaus. Ich bin wie meistens allein. Ohne Mama, ohne Oma, ohne Zus und auch ohne Chan. Für Doktor L. kaufe ich Pralinen. In dem Laden wimmelt es von Herzen; bald ist Valentinstag. Ich muss sofort an Doktor K. denken, aber ich habe seiner Frau letztes Jahr genug zu schaffen gemacht. Und Doktor L. würde den Witz nicht verstehen. Dieses Jahr also kein Herz.
Heute schließt mich Schwester Judith allein an meinen langen Freund an. Ich darf ihr assistieren: Ich halte die Nadel fest und schraube die rosa Schutzkappe ab. Das geht prompt daneben, und die Flüssigkeit spritzt über mich, ehe Judith die Nadel in meinen Port geschoben hat. Was diesen Schwestern so alles einfällt!
Kurz darauf fahre ich mit meinem langen Freund nach unten. Im OLVG herrscht viel Betrieb, und meine dritte Titte zieht die Aufmerksamkeit auf sich. In der hipsten Cafeteria des Krankenhauses, wo der Kaffee von den reizlosesten und unansehnlichsten Topffrisuren von ganz Amsterdam serviert wird – sie sind als die einzigen traditionellen Möbelstücke mit zu den Ristrettos und Macchiatos umgezogen – wartet das Kamerateam des KWF Kankerbestrijding auf mich.
»Du gibst der Sache einen besonderen Dreh«, hatte Inge gesagt, als sie mich am Telefon fragte, ob ich mich dieses Jahr nicht an der Spenderwerbung für die größte niederländische Stiftung zur Krebsbekämpfung beteiligen wolle.
»Klar, mach ich gern.« Ich höre mich noch selbst.
Und jetzt sitze ich wieder als Glamourpatientin hier. Meine Perücken sind für die das Interessanteste an mir. Mir soll’s recht sein. Ich brauche nicht viel zu tun: nur die übliche Runde mit meinem langen Freund drehen, in der Kapelle Kerzen anzünden, auf meiner Ex-Station, der C6, guten Tag sagen, die Chemo injiziert bekommen und hin und wieder lächeln. Ganz einfach. Aber auch ganz schwierig unter all den Krebspatienten.
Doktor L. nimmt seine Pralinen mit einem warmen Lächeln in Empfang. Nicht nur in seinem Büro herrscht das Chaos, auch im Flur türmen sich heute krumm und schief aufeinandergestapelte Akten. Er entschuldigt sich für das Durcheinander und begrüßt mich wie immer mit einem festen Händedruck.
Wir sprechen über meine Blutwerte und legen den nächsten Termin fest. Die Atmosphäre hat sich verändert. Ich stehe nicht mehr hier, um hoffentlich geheilt zu werden, ich stehe hier, um hoffentlich geheilt zu sein und nicht wiederkommen zu müssen. Meine Blutwerte machen sich, meine Termine dienen nur noch der Kontrolle. Strahlend erkläre ich, dass ich mich besser fühle. Dass ich wieder etwas zugenommen habe und spüre, wie meine Energie zurückkehrt. Dass ich mir sicher bin, dass es weg ist.
»Dann kann der Port jetzt raus? Soll ich ihn nicht zur Sicherheit noch eine Weile drinlassen?«
Doktor L. schüttelt den Kopf. »Du bist doch wieder gesund. Du hast es hinter dir.«
Wir schweigen einen Moment, dann schauen wir beide im selben Augenblick auf.
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