Heute bin ich blond
kommen?«
»Nein, du, ich bin todmüde, ich werf noch ein bisschen Morphin ein und geh dann gleich ins Bett.«
»Okay, Süße, ich ruf dich morgen an, schlaf gut.«
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Sonntag, 14. Mai 1006
Es ist Nachmittag, und ich schicke Chan eine SMS . Keine Reaktion. Ich rufe an. Immer noch keine Reaktion. Eine Stunde später rufe ich wieder an. Ellen meldet sich. Meine Augen werden bereits feucht.
»Hallo, Ellen, hier ist Sophie, wie geht’s Chan?«
Stille, Zögern. »Sophie, Chan fühlt sich nicht so gut, sie ruft dich in ein paar Tagen zurück, okay?«
Ich erschrecke. »Verdammt, kann ich vorbeikommen?«
»Wir sind gerade im Weggehen.«
»Ins Krankenhaus?«
»Ja.«
»Soll ich da hinkommen?«
»Das hat, glaub ich, nicht viel Sinn. Sie kotzt die ganze Zeit, sie fühlt sich echt hundsmiserabel.«
»Scheiße.«
»Schreib dir mal meine Nummer auf, du kannst mich jederzeit anrufen.«
Während ich mir die Nummer notiere, tropfen die ersten Tränen um Chan auf den zerknitterten Zettel. Um Chan, die stirbt. Jetzt? In ein paar Wochen? Monaten? Jahren? Ohnmacht – so stark habe ich sie, wenn es um einen anderen Menschen ging, noch nie empfunden.
Eine halbe Stunde später bin ich im AVL , verschwitzt, erschöpft und leicht hysterisch. In einem Raucherzimmer stehen zwei Bänke. Ich setze mich auf die eine und breche in lautes Schluchzen aus. Es ist halb sieben, und die Sonne scheint, aber ich spüre es nicht. Ich habe meinen Wintermantel an.
Ich weiß das doch alles, sollte man meinen. Was sie hören will, was sie nicht hören will.
Trotzdem tappe ich völlig im Dunkeln. Darf ich überhaupt hier sein? Soll ich eine Schau abziehen wie Chan? Witze machen?
Ich stehe am Fußende ihres Bettes, schaue zu, wie sie dahinsiecht, und weiß keine Antwort. Immer weniger Chan ist zu sehen und immer mehr Krebs. Und ich – immer weniger Krebs und immer mehr Sophie. Weit weg vom Tod. Ganz nah beim Tod. Ist es eine Urkraft, die mich so weit gebracht hat? Die mich meine Kreativität hat finden und nutzen lassen? Meine Geschichte, in Worten gespeichert, eben erst begonnen oder fast schon zu Ende, wenn ich sie demnächst in die Hand nehmen und zuklappen kann?
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Montag, 15. Mai 2006
Zwei Dinge heute. Meine CT um neun, danach zu Chan ins AVL , einfach um bei ihr zu sein, um etwas tun zu können und ihr zu zeigen, dass ich sie lieb habe. Während ich unter das Gerät geschoben werde, denke ich an meine Prognose und an die von Chan. Aufwachen nennt sich das, wenn man seine Freundin über der Kloschüssel hängen sieht, nachdem man ein paar Monate wie auf Wolken gelebt hat. Auf Regen folgt Sonnenschein. Für mich scheint jetzt die Sonne, für sie hat es wieder angefangen zu regnen.
»Ja, wen haben wir denn da?« Im OLVG klappt Annemarie die Akte zu, die sie vor sich hat, und greift nach meinem quadratmetergroßen Umschlag. »Schön sind deine Haare so.«
»Gut, was? Alles meine eigenen und dazu ein bisschen was aus der Flasche.« Sie will wissen, ob es etwas Neues zu beklatschen gibt.
Ich lächle und setze sie über die jüngsten Entwicklungen in meinem Leben als Single und debütierende Schriftstellerin ins Bild.
Doktor L. kommt und klinkt sich in unser Gespräch ein. Natürlich um den Zustand meines Körpers zu besprechen, nicht den meines frisch blondierten Kopfes. Nach all den Perücken wundert er sich über nichts mehr.
»Wie fühlst du dich?«, fragt er.
»Gut.«
»Keine Beschwerden? Stiche, ein Kribbeln?«
»Nein.«
»Gehst du zur CT ?« Doktor L. macht zwar meine Termine, aber ich halte sie ein.
»Da war ich gerade. Ich seh dich dann morgen?«
»Ja, das ist gut. Damit wollen wir nicht warten. Ich regle das.«
»Schön.«
»Okay. Stehen dir gut, die Haare.«
»Danke.«
Auf dem Weg in den vierten Stock komme ich an der Leichenhalle vorbei.
Gruselig, was? Dass ich da auch bald liege
. Von Chantals Worten bekomme ich wieder eine Gänsehaut. Welcher Idiot von Architekt hat sich das ausgedacht?
Im AVL haben alle Frauen kurze Haare, ich heute auch. Coupe Gel. Kahle sieht man auch und da und dort eine Perücke oder ein Kopftuch, muslimisch oder nicht. Chantal hat die dichtesten und längsten Haare, ist heute aber die Kränkste. Sie liegt im vierten Stock, Trakt C, Zimmer 1. EILT steht auf dem Schild neben der Tür.
Ich stehe an ihrem Bett und denke daran, wie einsam sie sich fühlen muss, weil sie als Erste geht. Das ist ihr eben beim Kotzen noch mal so richtig klargeworden.
»Zeig Sophie mal
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