Heute bin ich blond
erwarten, dieses neue Leben zu beginnen.
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Freitag, 23. Juni 2006
Es ist alles echt. Alle Worte, die ich geschrieben habe, alle Tränen, die ich geweint habe, aller Schmerz, den ich unterdrückt habe.
Alle Krankenschwestern, alle Infusionen, Doktor L., alle Fahrten in die Notaufnahme, alle Bluttransfusionen, alle weißen Kittel. Doktor K., alle Kotzeimer, alle Tabletten, die Kämpfe mit meiner Verdrahtung, meine dritte Titte, die nassen T-Shirts, die Löffelbiskuits, alle CT s, alle Blutwerte, Doktor N., alle Krankenakten, alle Kahlköpfe … mein eigener kahler Schädel. Es ist alles echt.
Lance, Jur, Oscar, Marco, Chantal, Aniek. Ihr seid alle echt.
Alle Karten, die in meinen Briefkasten gesteckt wurden, alle erschrockenen Anrufe, alle Besuche, alle Blumen, alle Sorgen, alle Blicke voller Mitleid, voller Ohnmacht, voller Kummer. Auch das ist alles echt.
Pap, Mam, Zus. So nah.
Alle Meditationsversuche, alle Naturkostläden, der Tomatensaft mit Zitrone und der grüne Tee, die Rote Bete, alle Körner und Misosuppen, ein bisschen Buddha. Echt.
Alle Perücken, alle Haare, die ich mir schmerzlos ausreißen konnte, meine letzten Schamhaare, die ich in einer Art eigensinnigem Trotz stehen ließ, am Ende aber auch ausriss, meine Narben, meine kaputten Venen am rechten Unterarm, mein langer Freund, mein Krankenhausbett. Echt echt.
Alles öffentliche Interesse, der Prometheus-Verlag, Presse, Fernsehen und Interviews. Echt.
Stella, Daisy, Sue, Blondie, Platina, Oema, Pam, Lydia und Bebé. Echt.
Otto und Bebé. Echt.
Die Liebe, die ich empfangen habe, all die herrlichen Streicheleinheiten, die ich bekommen habe, all die bedachtsamen Worte, die gesprochen wurden, all die Fürsorglichkeit, all die schönen Geschenke, das Lächeln, die warmen Blicke, ein Engelchen auf meiner Schulter, meine ganze Familie, alle meine Freunde, alle meine Bekannten, meine Erkenntnisse. Auch das ist alles echt.
Ithaka gab dir eine schöne Reise,
Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen,
Nun hat es dir nichts mehr zu geben.
K. P. Kavafis
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Epilog
Ein einziger Tag genügt, und man weiß, dass das eigene Leben in Zukunft ganz anders verlaufen wird als bisher. Ich nenne es den Tag des Urteils. Dass dieses Urteil für jeden anders ausfällt und zu einem anderen Zeitpunkt kommt, spielt dabei keine Rolle. Abschiede sind selten geplant. Vor drei Jahren genügten drei Worte, um meinen jungen Blick um Jahre altern zu lassen und die Weichen für den Rest meines Lebens zu stellen. Als ich dieser abrupten Veränderung ins Auge sah, schlossen sich plötzlich alle Türen vor den Zukunftsperspektiven, die ich einmal so sorgfältig ausgewählt hatte.
Was geschehen ist, hat mir nicht nur eine neue Lebensart beschert, sondern mich auch ins Scheinwerferlicht gerückt. Scheinwerfer der Anerkennung und Scheinwerfer des flüchtigen Interesses. Auch das hat mein Leben verändert. Erst an dem Tag, als ich aufgehört habe, mich hinter einer Perücke zu verstecken, habe ich die vielfältigen Möglichkeiten meiner Perücken entdeckt. Ich habe die wahre Geschichte hinter der Maske sichtbar gemacht, statt sie zu verbergen. Dadurch habe ich Aufmerksamkeit auf mich gezogen und bin in die Gedanken anderer eingedrungen, anderer Menschen, betroffen von meinen Erlebnissen.
Es dauert länger, um aus einer Geschichte wieder herauszukommen, als in sie hineinzugeraten. So wie das Loslassen mehr Tränen und mehr Lächeln erfordert als das Festhalten. Ich weiß noch, wie ich die ersten Tränen bei dem Gedanken geweint habe, mich vielleicht nie wieder zu verlieben. Richtig zu verlieben, mit allem Drum und Dran. Plötzlich standen sie wie eingerahmt vor mir, die belanglosen Wünsche: ein Mann, neun Regenbogenkinder, ein Waisenhaus, drei Hunde und ein Tierheim. Und ich war sehr traurig bei dem Gedanken, dass ich vielleicht nie erfahren würde, wie es ist, Mutter zu sein.
Ich weiß auch noch, wie gern ich, wenn mir das noch vergönnt wäre, auf dem berühmten Djemaa el Fna gestanden und in den Sternenhimmel über Marrakesch geschaut hätte. Wie früher von Tibet und Indien, träumte ich auf meinem Krankenlager von Marrakesch. Marrakesch, und noch viel weiter. Träumte davon, mich im Straßenbild von Buenos Aires zu verlieren. Zu sehen, wie hart die Japaner arbeiten und wie hoch die Gebäude in Hongkong sind. Wollte nach Indien fahren, wo ich einmal so heftig mein Herz verloren hatte, und eintauchen ins Glitzerleben von New York.
Ich hatte mir
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