Heute Nacht brauche ich Liebe
Red bereits seine Fliegerjacke und Handschuhe angezogen und steckte Decken und einen weiteren Erste-Hilfe-Koffer in einen großen Seesack. Lewis rappelte sich von der Wand auf, um zu helfen.
„Sie bleiben hier”, befahl Joan in scharfem Ton und warf ihm eine der Decken zu. „Ziehen Sie Ihre nassen Sachen aus und untersuchen Sie sich auf Frostbeulen. Dann setzen Sie sich ans Funkgerät und versuchen, Hilfe anzufordern.”
Sie zog ihre Daunenjacke an, wickelte einen Schal um Hals und Mund, ehe sie die Kapuze über den Kopf zog. Dann half sie Red, sich den Sack auf den Rücken zu schwingen und mit einem Gurt zu befestigen.
„Bist du bereit?” erkundigte er sich.
Sie nickte, zog ihre Handschuhe an und reichte ihm eine Taschenlampe. Ohne ein weiteres Wort öffnete er die Tür und sie traten hinaus in den Sturm.
Fast augenblicklich wurde Red, der nur wenige Schritte vor ihr war, in dem heftigen Schneetreiben zu einem vagen Schatten. Joan spürte die eisige Kälte zuerst an den Füßen. Innerhalb von Sekunden wurden sie gefühllos. Jeder Atemzug schmerzte ihr in den Lungen. Sie barg ihr Gesicht tiefer in den Pelzbesatz ihrer Kapuze und atmete flach durch den Mund. Der Wind heulte unablässig und peitschte ihr gegen die Haut, doch gefährlicher waren die Böen.
Sie waren von solcher Wucht, dass Joan ausrutschte und beinahe den Halt verloren hätte. Sie umklammerte fest das Seil und schleppte sich Zentimeter um Zentimeter weiter. Wie mochte es wohl den Männern und Frauen im Blue Jay ergehen? Sollte einer von ihnen beim Einsturz des Turms zufällig draußen gewesen und von herabstürzenden Steinen oder Balken getroffen worden sein, bestand für ihn keine Chance. Wenn er nicht auf der Stelle tot war, würde er an Unterkühlung sterben, noch ehe Red und sie ihn fanden.
Am liebsten hatte sie die Augen geschlossen, um sich vor dem peitschenden Wind zu schützen, doch sie wagte es nicht aus Angst, ihre Augenlider konnten verkleben. Trotzdem war ihre Sicht durch das Schneetreiben so behindert, dass sie plötzlich mit Red zusammenprallte.
Er war stehen geblieben und bemühte sich, ein Stück Metallstrebe zur Seite zu ziehen, die die Tür blockierte Joan half ihm, indem sie mit ihrem ganzen Gewicht mitdrückte. Es schien endlos zu dauern, bis die Strebe sich endlich bewegte, und es ihnen gelang, sie so weit zur Seite zu schieben, dass ein schmaler Spalt frei wurde. Red zwang sich hindurch und drückte die Tür auf. Joan folgte ihm ins Innere.
Es war eine große Erleichterung, dem Wind und dem Schneetreiben entkommen zu sein. Doch sie war nur von kurzer Dauer, denn augenblicklich wurde sie durch das schockierende Bild, das sich Joans Augen bot, zunichte gemacht. Durch die Fenster drang nur wenig Licht. Durch ein Loch im Dach drangen Wind und Schnee herein, weshalb die Temperatur im Raum rapide gesunken war. Irgendwo musste ein Feuer ausgebrochen sein, denn dichte Rauchschwaden erschwerten die Sicht und behinderten das Atmen.
Trotzdem sah Joan genug, um zu erkennen, dass der Barraum des Blue Jay völlig zerstört war. Tische, Stühle und Barhocker lagen quer durcheinander, Stahlträger hingen von der Decke. Red leuchtete mit der Taschenlampe den Raum ab. Joan sah einige Umrisse von Menschen, die wie benommen hin und her gingen, doch mehr lagen auf dem Boden, eingeklemmt unter umgefallenen Möbelstücken oder herabgestürzten Deckenteilen. Durch das Heulen des Windes vernahm sie nur sehr schwach das Stöhnen der Verletzten und verwirrte Stimmen. Es war grauenhaft.
Schlagartig wurde sie sich des Ausmaßes der Katastrophe bewusst. Della, Joe, Gilly, Maudie, Shark... sie waren alle hier, lagen in der Dunkelheit, verbluteten vielleicht oder waren bereits tot. Hätte sich das Unglück einige Minuten früher ereignet, läge jetzt auch Red irgendwo unter den Verletzten.
„Hey!” rief jemand. Es klang wie Gilly. „Helft mir.”
Red zog seine Schneebrille ab und stellte den Seesack auf den Boden. Das riss Joan, die vor Schreck wie gelähmt war, aus ihrer Erstarrung. Sie griff nach dem Sack. „Ich hole den Erste-Hilfe-Koffer”, sagte sie. „Such du weiter.”
Sie kniete auf den Boden und begann, den Sack zu leeren, während Red sich einen Weg durch umgestürzte Tische und Stühle bahnte. Es waren längst nicht genug Decken für so viele Verletzte vorhanden. Die Jacken, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Keiner von ihnen hatte eine Jacke an, und die Temperatur war bereits so weit gesunken, dass ihr Atem
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