Heute verführe ich den Boss
Kindheit und Jugend, all die Pokale, Urkunden und Fotos aus aller Welt vor seinen Augen in Flammen aufgingen, überstieg Mitchs Vorstellungskraft.
Sie drehte sich zu ihm und blickte ihn an. „Danke vielmals für den Hinweis.“ Sie klang etwas unterkühlt.
„Jenny.“
„Wirklich, ich hätte es fast vergessen.“
Er biss die Zähne zusammen. Dabei hatte sie allen Grund, so zu reagieren. Und sollte sie das Bedürfnis haben, zu fluchen, dann konnte sie das ruhig tun.
Doch sie schwieg.
„Na los“, forderte er sie auf.
„Was?“
„Lass es raus. Schrei mich an.“
Jetzt klang ihre Stimme wieder normal. „Wozu soll das gut sein?“
Plötzlich war er derjenige, der sich ärgerte. „Sei nicht so furchtbar vernünftig, und tu, was du tun musst!“
Sie schaute an sich hinunter. „Was ich tun muss, ist, mir neue Klamotten zu kaufen. Vielleicht komme ich morgen also ein bisschen später ins Büro, Boss.“
„Du weißt doch genau, was ich meine.“
„Nämlich?“
„Du sollst deinen Gefühlen freien Lauf lassen. Du hast allen Grund, deine Wut in die Welt hinauszuschreien, Jenny.“
Niemand, nicht einmal die immer beherrschte und logisch denkende Jenny, war in der Lage, so ein Desaster einfach hinzunehmen.
„Es gibt aber nichts, was raus muss.“
„Doch, das gibt es.“
Anstatt zu antworten, sah sie ihn abwesend an. Die Sekunden verstrichen. Dann, endlich, sprach sie. „Für dich klingt das wahrscheinlich verrückt.“
Da er keinen blassen Schimmer hatte, was sie meinte, wartete er auf weitere Erklärungen.
„Emily meint, ich soll ein ganz neues Haus bauen.“ Jenny stützte die Hände auf das Geländer. „Für mich klingt das gut. Mir gefällt die Idee viel besser, bei null anzufangen und ein Leben aufzubauen, das nichts mehr mit meinem alten zu tun hat, als …“ Mitten im Satz brach sie ab.
Er wartete.
„Was soll daran verrückt sein?“, fragte er schließlich.
„Jeder andere Mensch wäre vermutlich etwas nervös, wenn alles, was ihm gehört, in Flammen aufgehen würde.“
„Etwas nervös?“
„Die Sache ist die“, fuhr sie fort, „mir ist es eigentlich egal.“
„Natürlich ist es das nicht.“ Die Frau stand definitiv unter Schock. Gab es etwas, das er tun konnte? Oder würde sich ihr Zustand mit der Zeit von allein bessern?
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Es kümmert mich tatsächlich nicht, Mitch. Alles, was ich besessen habe, kann ich mir wieder kaufen.“
„Aber es geht doch nicht nur um die Dinge an sich“, widersprach er. „Sondern um die Bedeutung, die sie für dich hatten. Deine ganzen Erfolge, die Meilensteine, die du erreicht hast.“
„Ich schätze, ich habe nichts erreicht.“
„Das ist doch albern.“
Jenny war einer der gewissenhaftesten Menschen, die er kannte. Ohne sie würde der Club gar nicht erst laufen. Ohne sie würde er, Mitch, es nicht einmal versuchen.
Sie fröstelte. „Vielleicht ist das auch nicht der beste Zeitpunkt …“ Dann lachte sie. „Oder du bist nicht der beste Ansprechpartner.“
Augenblicklich drückte er einen Schalter, woraufhin drei kleine Heizgeräte ansprangen, die auf der Terrasse verteilt waren. Der Gedanke, dass er nicht die richtige Person sei, um Jenny zu helfen, missfiel ihm.
„Lass uns einfach das Thema wechseln“, bat sie.
„Du hast jede Menge Fähigkeiten und Talente“, versicherte er ihr. „Frag zehn andere Leute hier in Royal, und alle werden dir das Gleiche sagen.“
„Du redest ja immer noch davon“, sagte sie.
„Weil du Blödsinn redest. Stehst du vielleicht unter Schock?“
„Nur weil ich keine bescheuerten Andenken oder Erinnerungsstücke habe, heißt das noch lange nicht, dass ich unter Schock stehe.“
Mitch versuchte zu verstehen, was sie meinte. „Aber jeder besitzt irgendwelche Andenken.“
Sie lachte freudlos auf. „Für so ein amerikanisches Wunderkind muss es ganz schön schwierig sein, das zu verstehen, was? Nicht jeder von uns ist in den Genuss einer Bilderbuchkindheit gekommen, Mitch.“
Mitchs Kindheit war alles andere als perfekt gewesen. „Hab ich was Falsches gesagt?“
„Nein, hast du nicht.“ Sie ging zu einem der Gartensofas und ließ sich hineinfallen. „Reden wir lieber über dich.“
Mitch zögerte. Doch er wusste, jeder Mensch reagierte anders in Stresssituationen, also würde er ihrer Bitte nachkommen. Er setzte sich in einen der Sessel. „Was willst du wissen?“
„Sag mir, was für dich im Leben am wichtigsten ist. Wovon könntest du dich
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