Hex Hall 02 - Hawkins, R: Hex Hall 02
außerstande, den Blick von meinem Blut loszureißen, das langsam in die Runen floss. Und während es das tat, wurde das goldene Licht immer heller.
»Tu einfach das, was wir gestern geübt haben«, antwortete Dad mit leiser, aber fester Stimme. »Ruf dir eine menschliche Erinnerung ins Gedächtnis. Ein menschliches Gefühl.«
Plötzlich sah ich Archer wieder am Fenster in der Kornmühle sitzen, und schon war ich durch und durch von tiefer Sehnsucht erfüllt. Noch im gleichen Augenblick flogen direkt neben mir mindestens ein Dutzend Bücher aus dem Regal, deren Rücken durch die enorme Wucht brachen, so dass überall einzelne Seiten herumflatterten.
»Was anderes!«, zischte Dad und starrte mich panisch an.
»T-tut mir leid, tut mir echt leid«, stammelte ich und schüttelte heftig den Kopf, als wäre mein Gehirn eine Kinder-Zaubertafel, die Archer einfach so wieder auslöschen könnte.
Mach dir ruhige, glückliche Gedanken. Denk an Mom. An diesen Tag, als du acht warst und mit ihr auf den Jahrmarkt gegangen bist. Sie hat dich wieder und wieder mit dem Riesenrad fahren lassen. An ihr Lachen. Die funkelnden Lichter, den Duft von Schmalzgebäck.
Mein Herzschlag wurde ruhiger, und ich spürte, wie sich meine Kräfte in mir zusammenrollten – gesichert und bereit, von mir gelenkt zu werden.
»Viel besser.« Dad seufzte erleichtert. »So, und jetzt konzentrier dich auf den Glaswürfel und denk einfach nur Öffne dich .«
Ich atmete gleichmäßig und tief und dachte an nichts anderes. Nach einer Weile wurde meine Hand allmählich kalt, und ich hatte irgendwie das ungute Gefühl, die Runen würden mein Blut trinken. Bei diesem Gedanken bekam ich ganz weiche Knie und versuchte durch hektisches Blinzeln, den grauen Nebel zu vertreiben, der mich zu überwältigen drohte. Ich hatte schon teleportiert und Dinge aus dem Nichts erscheinen lassen. Um Himmels willen, ich war sogar geflogen. Da würde ich doch jetzt beim Öffnen eines blöden Glaskastens bestimmt nicht in Ohnmacht fallen.
Aber so was wie das hier hatte ich tatsächlich noch nie zuvor gefühlt, selbst als ich früher diese hochexplosiven, superheftigen Zauber gewirkt hatte. Meine Magie strömte nicht wie ein reißender Fluss aus meinen Füßen nach oben, sondern … es war vielmehr ein Rinnsal. Und obwohl meine Zähne klapperten, als wäre mir kalt, war ich schweißgebadet.
Meine Finger waren mittlerweile taub, meine Hand sah furchtbar bleich aus, und trotzdem drückte ich sie beharrlich auf den Glaswürfel. Doch abgesehen vom Leuchten der mit Blut gefüllten Runen schien nichts weiter zu passieren.
Dad sah nicht ganz so erledigt aus, wie ich mich inzwischen fühlte. »Es ist nicht nur der Schutzzauber«, sagte er, und seine Hand rutschte von dem blutigen Glas ab. Seine Stimme klang rau. »Es ist auch das Buch.«
Die grauen Nebel wurden dichter. »Und worauf soll ich mich dann konzentrieren?«, flüsterte ich. Allerdings nicht, weil ich etwa leise sein wollte, sondern weil ich gar keine Kraft mehr hatte, lauter zu sprechen.
»Auf beides«, antwortete Dad. »Stell dir einfach vor, wie sich das Glas öffnet und das Buch in deinen Händen liegt. Aber verlier dabei nicht deine menschliche Erinnerung aus den Augen.«
Mein Kopf fühlte sich zu schwer an, als dass ich ihn noch länger hätte halten können, also sank ich mit der Stirn auf den Schrank. »Da muss ich mir aber verdammt viel vorstellen, Dad.«
»Das weiß ich, Sophie, aber du schaffst das.«
Also schaffte ich es auch. Ich behielt Moms Gesicht vor meinem inneren Auge, während ich mich gleichzeitig auf den Glaswürfel und das Grimoire konzentrierte. Und ich gab mir wirklich große Mühe, mich möglichst nicht darauf zu konzentrieren, wie wacklig und erschöpft ich mich fühlte.
Und dann – endlich – bewegte sich das Glas.
»Das ist es«, murmelte Dad mit strahlenden Augen in einem ausgezehrten Gesicht. »Fast geschafft.«
Ich hatte eigentlich erwartet, dass sich der Würfel öffnen oder dass vielleicht eine Wand zur Seite wegkippen würde oder irgend so was. Stattdessen verschwand er einfach … wie eine zerplatzte Seifenblase. Das geschah so plötzlich, dass unsere Hände laut auf das hölzerne Regal klatschten.
Dad nahm das Buch an sich. Jetzt, da es nicht mehr unter seinem magischen Glaswürfel steckte, sah es genauso aus wie jedes andere alte, verstaubte Buch. Der schwarze Ledereinband war im Laufe der Jahre stumpf geworden und so roch es nach uraltem Papier und Moder.
Während Dad
Weitere Kostenlose Bücher