Hex
Regalreihen wiederzufinden. Er konnte unmöglich alle Ordner über den Fall aus dem Haus schleppen, deshalb war es wichtig, daß er die Beschriftungen auf dem Rücken der Bände lesen konnte. Er hatte bereits eine ungefähre Idee, in welchen er nach den Antworten auf seine Fragen zu suchen hatte.
Geführt vom Schein der Handlampe trat er ins Labyrinth der Regale. Nach zehn oder fünfzehn Schritten fand er die richtigen Fächer auf Anhieb.
Sie waren leer.
Die Ordner, die rechts und links der Kayssler-Bände gestanden hatten, waren von den Brettern gerutscht und lagen verstreut am Boden. Einzelne Seiten, die sich aus ihrer Heftung gelöst hatten, schimmerten vergilbt in der Dunkelheit.
Fassungslos starrte Karel in das leergeräumte Fach. Er brauchte nicht einmal mit der Lampe zu leuchten, um zu wissen, daß nur die Akten über den Fall Kayssler fehlten.
Sogar die Krebsstimme schwieg – vor Schreck oder weil Karel andere Sorgen hatte.
Er ging in die Hocke und erhellte die Ordner am Boden, in der schalen Hoffnung, die Diebe – denn Diebe waren es, verflucht noch mal, Ministerium hin oder her! – hätten den einen oder anderen übersehen.
Aber natürlich waren sie mit aller Gründlichkeit vorgegangen. Kein einzelnes Stück Papier verriet mehr, daß die Kayssler-Akten jemals hier gestanden hatten.
Karel hätte es vielleicht damit bewenden lassen, er war beileibe kein Held, wäre da nicht etwas gewesen, das ihn skeptisch machte. Er entdeckte es, als er zwischen den Regalen ins Freie trat. Merkwürdig, daß es ihm nicht gleich beim Hereinkommen aufgefallen war.
Auf seinem Schreibtisch lag, neben einem Bücherstapel, ein Hut. Ein schwarzer, modischer Filzhut.
Niemand, den das Ministerium hergeschickt hätte, hätte ihn hier liegen lassen. Niemand! Dessen war er sicher.
Und ein anderer Gedanke schlich sich in sein Bewußtsein: Vielleicht hatte derjenige den Hut gar nicht vergessen, sondern nur kurz abgelegt. Vielleicht war der Besitzer...
Großer Gott!
Karel riß die Lampe hoch und leuchtete zu den Regalen hinüber. Schwarze Schattenstränge schoben sich wie Schlangennester über- und untereinander, zuckten und bebten bei jeder Bewegung, die seine Hand mit der Lampe vollführte.
Sein Atem stockte. War da eine Gestalt hinter den vorderen Reihen? Vielleicht täuschte er sich.
Er wunderte sich nicht mehr, daß der Tumor in seiner Kehle schwieg. Die Unruhe schnürte ihm den Hals zu. Aber zugleich war da Empörung in ihm, eine gehörige Portion sogar. Was dachten sich diese Mistkerle, in sein Archiv einzubrechen und Unordnung zu stiften? Verdammt, hätten sie darauf bestanden, hätte er ihnen die Akten doch schon am Nachmittag ausgehändigt!
Etwas raschelte, knisterte. Wenig später kroch ein scharfer Geruch an seine Nase.
Rauch!
Eine Sekunde lang erwog er, nach dem Nachtwächter zu rufen. Aber bis der Mann hier oben war, mochte es längst zu spät sein. Das alte, trockene Papier in den Regalen würde brennen wie Zunder.
Ein Feuer, in seinem Archiv! Der Gedanke löste seine Erstarrung. Er mußte den Brandherd finden. Es knisterte lauter, der Rauch wurde dichter. Er kam von irgendwo ganz hinten, aus den letzten Regalreihen.
Karel stürmte vorwärts, ungeachtet aller Ängste. Lieber wollte er im Rauch ersticken, als tatenlos zuzusehen, wie das Archiv in Flammen aufging.
Er hetzte durch die Reihen, bis er das Feuer gefunden hatte. An der Rückwand des Speichers lag ein Haufen Akten am Boden und brannte. Flammen tanzten prasselnd über die Pappdeckel, Seiten zerfielen zu Glut und Asche. Karel wußte, welche Akten es waren, auch ohne genauer hinzusehen.
Verzweifelt suchte er nach etwas, mit dem er das Feuer löschen konnte. Er hatte irgendwann für genau diesen Fall ein halbes Dutzend gefüllter Wassereimer zwischen den Regalen verteilt. Er rannte los, fand den ersten. Mit der Zeit war die Hälfte des Wassers daraus verdunstet. Hustend kippte er den Rest in die Flammen, und tatsächlich erlosch ein Großteil gleich beim ersten Versuch. Karel holte den zweiten Eimer, leerte auch ihn über den Akten. Zischend und qualmend schrumpfte das Feuer zusammen, verging schließlich ganz.
Aber nein, da waren weitere Flammen. Dort drüben, an einem Regal! Und da, noch eines! Das ganze Archiv brannte. Jemand lief durch die Reihen und legte Feuer!
»Wo bist du?« schrie Karel unter Tränen in den Rauch. »Wo bist du, Scheißkerl?«
Ein Umriß löste sich aus dem Schatten eines Regals, ein Scherenschnitt im schwarzen Mantel.
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