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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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einsichtig zurück. Er spürte nur, wie sich alles um ihn zu drehen schien.
    »Nürnberg«, keuchte der Mann noch einmal. Seine Augen öffneten sich, ihr Blick aber ging durch Max und Sina hindurch. »Vor drei Tagen... verschleppt... Ich bin ihr gefolgt... wollte helfen... fortgelaufen...«
    Max wurde rasend vor Sorge. Wieder drängte er zu dem Mann, und Sina hielt ihn erneut zurück. »Wer hat sie verschleppt? Sie?«
    »Nicht... ich. Die Gesell... Gesellschaft. Bitte, keinen Arzt...«
    Sina fuhr herum, ohne seinen Einwand zu beachten. »Jemand muß Ihnen helfen.«
    Der Mann versuchte, seine Hand zu heben, um sie zurückzuhalten, aber schon nach wenigen Zentimetern sank sie zurück aufs Bett. Sina eilte aus dem Zimmer und rannte die Treppen hinunter.
    Max war allein mit dem Verwundeten.
    »Sie ist jetzt in Nürnberg?« fragte er noch einmal. »Wo dort?«
    »Vor drei Tagen hin... könnte überall sein. Ich weiß nicht, wo... hab’ sie verloren... wollte nur helfen, aber sie... sie lief fort... fuhr mit dem Wagen...«
    Max fuhr zornig auf. »Sie lügen! Larissa kann gar nicht fahren.«
    »Lüge... nicht. Fuhr weg... in die Stadt.« Die Stimme des Mannes wurde leiser. Sie klang heiser und raschelnd, wie trockenes Laub, das übers Pflaster weht.
    Max beugte sich mit dem Mund näher an das Ohr des Mannes. »Was ist hier geschehen?«
    »Ich kam zurück... aus Nürnberg... wollte Zeichnung holen, um sie... Ihnen zu geben.«
    »Mir? Was für eine Zeichnung?«
    »Im Wohnzimmer... sie liegt... im Wohnzimmer.«
    »Was für eine Gesellschaft meinten Sie eben?«
    »Die... Gesellschaft. Will... wegen... Dingen vom Himmel.«
    Max sprang auf. »Ich bin gleich zurück.« Er eilte ins Wohnzimmer und blickte sich um. Auf dem Teppich waren Blutspuren. Hier mußte der Mann die beiden anderen mit dem Stilett erstochen haben. Sicher waren sie es gewesen, die auf ihn geschossen hatten. Trotzdem hatte er ihre Leichen noch ins Bad geschleppt, hatte vielleicht die Schwere seiner eigenen Verletzungen unterschätzt. Dann aber war er nicht einmal mehr bis ins Treppenhaus gekommen. Statt dessen hatte er sich wie ein waidwundes Tier ins Schlafzimmer geschleppt und in die Decken gerollt. Um dort zu sterben? Oder hatte er warten wollen? Auf wen?
    Es gab keine Zeichnung im Wohnzimmer, dafür aber die Reproduktion eines alten Holzschnitts. Sie lag auf dem Beistelltisch und zeigte Kreise und Kegel und Kreuze, die am Himmel über einer mittelalterlichen Stadt schwebten. Irgendeine religiöse Darstellung, vermutete Max. Sie erinnerte ihn seltsamerweise an den Bericht des alten Inuitschamanen.
    Mit dem Papier eilte er zurück ans Bett. Der Mann hatte die Augen weit aufgerissen, als sähe er etwas auf sich zukommen, das nur er allein erkannte.
    »Zurück aus Nürnberg... gestern«, begann er unvermittelt. »Hierhergekommen... dachte, Ihre Verlobte... sei zurückgekommen. Aber... falsch. Nur zwei Männer... warteten. Beide... sind tot.«
    Zitternd öffneten sich seine Lippen, und ein seltsamer Laut drang aus seiner Kehle. Max glaubte erst, es sei ein Stöhnen. Fieberhaft überlegte er, wie er die Schmerzen des Mannes lindern könnte. Erst als der Sterbende den Laut wiederholte, begriff Max, daß es ein Wort war. Es klang wie »Eule« oder »Schule« oder...
    »Thule.«
    Beim dritten Mal verstand er es. Es war der Name einer Stadt, irgendwo im Norden, in Island oder – natürlich! – Grönland. Aber wenn er sich recht erinnerte, war das nicht mehr der Name, den sie heute trug.
    Er wußte, er hatte diesen Begriff schon einmal aufgeschnappt, in einem ganz anderen Zusammenhang.
    Thule.
     
    Der Mann starb, kurz bevor in der Ferne das Horn eines Krankenwagens erklang. Sina war bereits vor einigen Minuten zurückgekehrt. Als kein Zweifel mehr daran bestand, daß der Mann gestorben war, entschieden sie, nicht auf die Sanitäter zu warten. Trotz ihrer Ausweise hätte man sie viel zu lange aufgehalten, spätestens wenn die Leichen im Bad gefunden würden. Zudem wußten sie nicht, wie es um das Hex stand und ob ihre Papiere noch Gültigkeit besaßen.
    Schweren Herzens ließ Max die Wohnungstür für die Sanitäter offenstehen. In den nächsten Tagen würde die Polizei hier ein und aus gehen und Larissa wahrscheinlich auf ihre Fahndungsliste setzen. Immerhin vergrößerte das die Chancen, daß sie bald gefunden wurde. Max und Sina konnten den Behörden auch später noch erklären, was hier vorgefallen war.
    Zügig, aber ohne zu rennen, eilten sie den Kurfürstendamm

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