Hex
Jahrhundert vor Christus von dem griechischen Entdecker Pytheas aus Massilia beschrieben, angeblich sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien. Es hieß, es sei das äußerste Land am Nordrand der Welt. Vor sechzehn Jahren, also 1910, gründete der Polarforscher Knud Rasmussen am Nordostzipfel Grönlands eine Station und nannte sie in Anlehnung an die alten Legenden Thule. Nach seinem Tod fiel die Siedlung an die Dänen, und sie gaben dem Namen der Inuit den Vorzug. Thule heißt heute Qaanaaq.«
Max wurde blaß. »Erinnerst du dich, was Kapitän Jessen sagte, als wir mit ihm sprachen? Nach der Landung in Nuuk sollte nur ein einziger Passagier an Bord bleiben, um mit der Polar weiter nach Norden zu fahren.«
Sinas Augen weiteten sich. »Nach Qaanaaq.«
»Nach Thule«, bestätigte Max. »Und Thule erwähnte auch der Mann in Larissas Wohnung, bevor er starb.«
»Vielleicht ein Zufall.«
»Glaubst du das wirklich?«
Sie fuhr sich gedankenverloren über den Hinterkopf. »Nein. Aber was hat das zu bedeuten?«
Max sah aus, als wollte er vor Erregung aufstehen und im Abteil auf und ab gehen. Trotzdem zwang er sich sitzen zu bleiben und sagte: »Thule ist nicht nur eine Stadt. Es ist noch etwas anderes.«
Da begriff sie. »Aber ja!« Plötzlich lachte sie auf, doch es war ein übernervöser, gereizter Laut.
Max legte gedankenverloren den Kopf in den Nacken. »Die Thule-Gesellschaft. Ein Bund deutscher Nationalisten mit Hang zu nordischem Brauchtum und Okkultismus. Wurde vor rund zehn Jahren gegründet.«
»1918, vor acht Jahren«, verbesserte ihn Sina und war insgeheim dankbar für die Stunden, die sie stöbernd im Archiv der Villa verbracht hatte. Einmal daran erinnert, spulte sie ihr Wissen herunter: »Die Thule-Gesellschaft ging aus dem sogenannten Germanen-Orden hervor. In den Orden wurden nur Männer und Frauen aufgenommen, deren deutsche Abstammung sich bis auf drei Generationen zurückverfolgen ließ. Der Ordensgründer, ein gewisser Sebottendorff, propagiert die Ursache aller Krankheiten und Elendserscheinungen im ›Gemisch der Rassen‹, wie es in seinen Leitsätzen heißt. Sein erklärtes Ziel ist der Zusammenschluß der germanischen Völker im Kampf gegen alles, was er in seinen Richtlinien als ›undeutsch‹ einstuft, vor allem also jüdische, islamische und asiatische Einflüsse.« Sina schwieg einen Augenblick, während sie versuchte, sich an weitere Details zu erinnern. »Die Thule-Gesellschaft übernahm die Ziele des Germanen-Ordens und mit ihm auch seine Sitten und Feiertage, Sonnwendfeier, Julfest und so weiter. Die Gesellschaft wurde offiziell von zwei Studenten gegründet, aber der wahre Drahtzieher war auch hier Rudolph von Sebottendorff. Er kaufte für ein paar tausend Mark eine alte Münchener Zeitung und benannte sie um in Völkischer Beobachter.« Während sie sprach, blickte Sina gedankenverloren aus dem Fenster auf die vorbeirasende Landschaft. »Schon ein paar Monate später wurde der Beobachter zum Lokalorgan der DSP, der Deutsch-Sozialistischen Partei, deren Münchener Ortsgruppe sich aus den Reihen der Thule-Gesellschaft rekrutierte. Die Verbindung zwischen Thule-Gesellschaft und Politik war damit perfekt.«
»Aber die DSP wurde 1922 aufgelöst«, warf Max ein, der mit politischem Geschehen weit vertrauter war als mit Geheimbündlerei.
»Allerdings, und zwar nur ein knappes Jahr vor dem Münchener Putschversuch dieses Österreichers, dieses Adolf Hitler. Mitglieder der DSP hatten sich tatkräftig an den Vorbereitungen beteiligt.« Sina schlug die Beine übereinander und sah nun wieder Max an. »Aber das war noch nicht alles. Sebottendorff rief innerhalb seiner Gesellschaft den Thule-Kampfbund ins Leben, eine Art Privatarmee. Die meisten Mitglieder waren studierende ehemalige Frontsoldaten. Schwerbewaffnet und von den Behörden geduldet nahmen sie an der Niederschlagung der bayrischen Räterepublik teil und wurden eine Weile lang sogar als Helden gefeiert. Andere Anhänger der Thule-Gesellschaft gründeten die Deutsche Arbeiterpartei, auf die wiederum Hitlers NSDAP zurückgeht.« Sina holte tief Luft. »Die Gesellschaft verlor erst an Bedeutung, als Sebottendorff 1919 aus Angst vor politischer Verfolgung aus Deutschland fliehen mußte. Die Aktivitäten seiner Anhänger schliefen ein oder konzentrierten sich auf andere Organisationen. Erst als vor drei Jahren die NSDAP verboten wurde, trafen sich einige ihrer Mitglieder erneut unter dem Deckmantel der Thule-Gesellschaft. Aber die
Weitere Kostenlose Bücher