Hex
Verzweiflung besonders groß war, kam sie sich albern vor. Sie war nur Schauspielerin, mäßig talentiert und vollkommen unbekannt. Sie allein gegen die Schwarze Reichswehr – das war wohl kaum ein gerechter Kampf. Und genaugenommen war es gar keiner, denn von kämpfen konnte nicht die Rede sein. Nicht einmal von dem Versuch. Alles, was sie tat, war zu beobachten.
Oft dachte sie an Max, und ob er schon zurück in Berlin sei, aber die Gedanken an ihn machten sie krank vor Sorge, und so verdrängte sie sein Bild so gut es nur ging.
Von morgens bis abends streifte sie durch die Gassen und Straßen der Altstadt, stand in den Schatten am Rand der kleinen Plätze und versuchte, ein Muster in den Standorten der Uniformierten zu entdecken. Nach zweieinhalb Tagen hatte sie endlich durchschaut, was sie im Grunde längst vermutet hatte – daß nämlich das scheinbar willkürliche Auftauchen der Soldaten einem ganz bestimmten System folgte, einer Art Spirale, die sich zur Burg hin immer deutlicher verengte. Was immer die Männer bewachen mochten, es befand sich im Inneren der Kaiserburg. Ohne Zweifel wäre auch sie selbst dort gelandet, hätte der Leierkastenmann sie nicht befreit.
Sie fragte sich, was aus ihm geworden war. Vielleicht hatte sie ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht hatte er es wirklich ehrlich mit ihr gemeint. Aber was half es schon, sich im nachhinein Vorwürfe zu machen? Jetzt mußte sie allein sehen, wie sie aus diesem Schlamassel herauskam.
Am Mittag des dritten Tages, nachdem sie herausgefunden hatte, daß die Antwort auf alle Fragen auf dem Burgberg zu suchen war, zog sie sich für einige Stunden in ihr Zimmer zurück. Dort stand sie am offenen Fenster, beobachtete die Türme und Fenster der Burg bis ihr vom Sonnenlicht die Augen schmerzten, und fragte sich, wer hinter den meterdicken Mauern ihre Ankunft erwartet hatte. Wer gab der Schwarzen Reichswehr die Befehle? Wer nahm den Tod all dieser Menschen in Kauf, und was bezweckte er?
Und da fiel ihr zum ersten Mal wieder der Holzschnitt ein. Er mußte noch immer auf dem Tisch in ihrem Wohnzimmer liegen. Lange hatte sie ihn betrachtet und über die geheimnisvollen Andeutungen des Mannes auf dem Friedhof nachgedacht. Sie erinnerte sich wieder an die Kugeln und seltsamen Formen, die auf dem Bild am Himmel über Nürnberg schwebten. Und wenn die Kugeln in Wahrheit Scheiben waren? Denn eine Scheibe war es doch gewesen, die Max in Grönland suchen wollte. Hatte sie endlich das fehlende Bindeglied zwischen Max, dem rätselhaften Holzschnitt und ihrer eigenen Entführung entdeckt?
Sie spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Scheiben und Kreuze und Zylinder über Nürnberg. Unwillkürlich blickte sie zum blauen, leeren Himmel empor und fragte sich, ob damals, im Jahre 1561, wirklich etwas dort oben gewesen war. Und ob, wie auf dem Holzschnitt dargestellt, wirklich einige der Kugeln oder Scheiben zur Erde herabgefallen waren. Wenn ja, hatte man sie jemals gefunden? Was war damit geschehen? Wo hatte man sie hingebracht?
Sie verstand nicht viel vom Mittelalter, aber doch genug, um zu wissen, daß die Burgen die Zentren allen Lebens gewesen waren. Sie waren die größten, stärksten und sichersten Gebäude ihrer Zeit. Wohin also hätten die Menschen von damals etwas gebracht, das vom Himmel auf sie herabfiel? Etwas, das sie fürchteten oder verehrten, ganz sicher aber vor fremden Blicken schützen wollten?
Larissa stand da, versuchte mit Blicken die kleinen schwarzen Fenster der Burg zu durchdringen und überdachte ihr weiteres Vorgehen. Und dann, am frühen Abend, faßte sie endlich einen Plan.
Sie waren bemüht, es sich im Abteil bequem zu machen und eine Weile zu schlafen, wenigstens auszuruhen, aber am Ende gelang es keinem von beiden. Immer, wenn einer gerade Ruhe gefunden hatte, kam dem anderen ein neuer Gedanke zu dem seltsamen Kreis aus Themen, der sie während der ganzen Stunden nicht loslassen wollte. Und wie hätte er auch? So vieles hing davon ab. Und so sprachen sie wieder und wieder über die Thule-Gesellschaft, über Zacharias und Max’ Vater, über den Toten in Larissas Wohnung, über glühende Scheiben im ewigen Eis und die verblüffende Entsprechung, die sie in dem mysteriösen Holzschnitt fanden. Max hatte versucht, die Stichworte auf der Rückseite zu enträtseln, aber schließlich war es Sina, die Dominiks Handschrift wiedererkannte.
»Er könnte es geschrieben haben«, sagte sie, »aber sicher bin ich mir
Weitere Kostenlose Bücher