Hexe auf leisen Sohlen
Auf meinem Weg aus dem Sanatorium
begegnete ich niemandem. Es ging fast zu leicht.«
»Wollen Sie damit sagen, daß
Sie sich einfach entschlossen, hinauszugehen und daß das klappte?«
»Genauso war es.«
»Und niemand versuchte, Sie
aufzuhalten? Sie wurden nicht einmal dabei gesehen?«
»Ganz richtig, Daniel. Aber was
spielt das schon für eine Rolle?«
»Das kann sehr wichtig sein«,
antwortete ich. »Hören Sie zu, Nickyboy . Sie haben
allen Grund, auf mich wütend zu sein, das weiß ich genau. Ich will Sie nicht
überzeugen, daß ich Ihr aufrichtiger Freund bin, aber auch ohne daß Sie mich
umbringen, stecken Sie schon tief genug im Schlamassel. Es wird behauptet, daß
Sie bei der Flucht aus dem Sanatorium einem Krankenpfleger den Arm brachen. Es
wird behauptet, daß Sie ein gewalttätiger Geisteskranker sind. Vernon Clyde
wurde in der vergangenen Nacht ermordet, als Sie sich in der Stadt
herumtrieben. Und das wird man Ihnen in die Schuhe schieben. Vielleicht kann
ich Ihnen aus der Klemme heraushelfen.«
»Sie?« Er spie das Wort aus.
»Ich werde Ihnen gleich den Schädel einschlagen, Daniel«, schrie er bedrohlich
wild. »Und dann gehe ich zu meiner Frau. Vielleicht sollte ich Ihnen nicht
sagen, was ich mit ihr mache, aber sie wird sich nie wieder davon erholen,
falls sie es überlebt.«
»Also gut, Nickyboy «,
sagte ich, »dann sind Sie eben ein mordlustiger Wahnsinniger, und alle meine
Mühe ist umsonst.« Ich hob meine Stimme um mindestens eine Oktave. »Dann
erschießen Sie mich doch. Schlagen Sie mir den Schädel ein.«
Voller Hoffnung beobachtete ich
die Tür hinter ihm, aber sie bewegte sich nicht. Wie fest konnte ein Mädchen
denn schlafen?, fragte ich mich verzweifelt.
»Alles zu seiner Zeit, Daniel«,
sagte Nicholas. »Verlieren Sie nur nicht die Nerven. Ich möchte Sie erst noch
ein bißchen schwitzen sehen, so wie ich geschwitzt habe.«
»Gewiß«, antwortete ich. »Warum
holen Sie nicht eine Schüssel, damit Sie die Tropfen zählen können?«
Die Schlafzimmertür bewegte
sich um einen Zentimeter. Ich blinzelte, darauf hielt sie an. Dann bewegte sie
sich wieder, um einen ganzen Zoll. Ich versuchte es zu beobachten und nicht zu
beobachten.
»Warum sagen Sie nichts,
Daniel?« höhnte Nicholas. »Sie haben doch immer geredet, so weit ich mich
erinnern kann. Schauspieler können nur Theaterbesucher täuschen, aber niemals
einen Maler. Hatten Sie das nicht behauptet?«
Die Tür hatte sich ganze sechs
Zoll weit geöffnet, und ich konnte Charitys Gesicht
erkennen. Es wurde weiß und verzerrt, als sie die Waffe in Nicholas´ Hand
erblickte.
»Ich überlegte gerade, Nickyboy «, sagte ich. »Wenn ich einen Stein hätte und Sie
nicht hinsähen, könnte ich ihn so werfen, daß er direkt hinter sie fiele, und
Sie würden sich umdrehen, um festzustellen, woher das Geräusch käme. Das würde
mir gerade genug Zeit geben, um Sie anzuspringen und Ihnen die Waffe
fortzunehmen... Wenn ich einen Stein hätte.«
Ich sah, wie Charity tief Luft
holte und schwang mich leicht vorwärts auf den Ballen meiner Füße.
»Nicholas!« rief sie laut.
Er zuckte zusammen, als ob auf
ihn geschossen worden wäre. Seine ganzen überbeanspruchten Nerven reagierten
gleichzeitig. Er riß seinen Kopf zu Charity herum, die unmittelbar hinter ihm
stand. Ich warf mich im gleichen Augenblick vor, ohne auf den Startschuß zu warten.
Ich hielt meinen rechten Arm
steif vor mir ausgestreckt, die Hand im Winkel von neunzig Grad vom Arm
abgewinkelt, so daß mein Handgelenk Nickyboy gerade
aufs Kinn traf, mit hundertfünfundachtzig Pfund Danny Boyd hinter dem Schlag.
Nicholas flog zurück und begann
sich zu überschlagen. Sein Salto fand unvermittelt ein Ende, als er gegen die
Wand prallte. Er glitt an ihr zu Boden und blieb regungslos liegen. Behutsam
hob ich die Magnum auf und legte den Sicherungsflügel um. Ich gab sie Charity
zum Halten. Ihrem Gesichtsausdruck nach hatte sie sich noch nicht so weit
gefaßt, daß sie sprechen konnte.
Dann trat ich zu Nickyboy hinüber und sah ihn mir an. Als ich durch die Luft
auf ihn zusegelte, war mir bewußt geworden, daß ich vielleicht etwas zu eifrig
gewesen war. Aber da war es schon zu spät, um etwas zu ändern. Es beunruhigte
mich, daß ich ihm vielleicht das Genick gebrochen hätte. Ich untersuchte ihn
sorgfältig und stellte fest, ich hatte es nicht getan. Ich hatte ihm auch
keinen anderen wichtigen Knochen gebrochen, aber das war auch alles, soweit ich
es beurteilen konnte. Wenn
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