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Hexen in der Stadt

Hexen in der Stadt

Titel: Hexen in der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Engelhardt
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waren dies für ihn die ersten Töne aus der Außenwelt, wenn er den Gesang der Vögel am frühen Morgen nicht rechnete und das unaufhörliche Glockenläuten von den vielen Kirchtürmen, das er kaum noch hörte. Diese Musik aber war etwas Neues. Wo kam sie her? War eine Hochzeit hier in der Nähe? Denn andere Lustbarkeiten waren doch längst nicht mehr erlaubt. Ja, gab es überhaupt noch welche irgendwo in der Welt? Die Musik sagte ja. Sie lockte und rief und schien immer näher zu kommen. Der Knabe konnte die Weisen erkennen und hätte sie mitpfeifen können. Aber das paßte nicht an diesen Ort. Er hatte sich auf die Pritsche gesetzt. Zum erstenmal seit vielen  Tagen verließen seine Gedanken den befohlenen Kreislauf um Sünde und Buße und gingen eigene Wege.
    Wie war er doch hierhergekommen? Die alte, adelige Base in der Plattnergasse, in deren Haus sich die Junker zu allerlei verbotenen Vergnügungen zu treffen pflegten, zu Trunk, Glücksspielen und Begegnungen mit Mädchen, die war eines Tages als Hexe entlarvt worden, was keinen wunderte. Vielleicht war sie schon längst verbrannt. Vorher aber hatte sie noch Unglück genug angerichtet. Ihre Aussage hatte den Junker und seinen Freund Reitzenstein zuerst in ein strenges Verhör vor dem gesamten Kollegium und dann in dies Gefängnis unterm Dach gebracht, von dessen Vorhandensein sie nie etwas geahnt hatten. Warum nur sie beide von allen? Und wie lange saß er schon hier? Es war noch Winter gewesen und bitterkalt hier oben, als sie eingesperrt wurden. Nun war die Hitze so nah unterm Dach oft unerträglich.
    Sie waren von Anfang an getrennt worden, in zwei Kammern nebeneinander. Aber sie hätten trotz ihrer geistlichen Bestimmung nicht eben doch Schulbuben sein müssen, wenn sie es nicht, der strengen Bewachung zum Trotz, fertiggebracht hätten, miteinander in Verbindung zu treten. Der Laienbruder, der ihnen das Essen brachte und dem verboten war, mit ihnen zu sprechen, trug ahnungslos, an seinem Rock festgesteckt, Zettel mit Botschaften vom einen zum andern. Auch Klopfzeichen an die Wand wagten sie, wenn sie etwa zwischen Mitternacht und Morgengrauen sicher waren, daß keiner sie belauschte.
    Tröstliches gab es nicht mitzuteilen. Stundenlange Gebete, Verhöre, Teufelsaustreibungen anstelle des Nachtschlafs waren die Mittel, mit denen man sie dazu bringen wollte, ihre jugendlichen Sünden als Folgen höllischer Verbindungen einzugestehen. Sie waren jung und zäh, dazu stolz und trotz allem unverdorben. Sie wehrten sich tapfer und fanden sogar den Mut, einander mit frechem Spott zu ermuntern.
    Dann war eines Tages der Reitzenstein fortgewesen, so plötzlich, daß er sich nicht einmal auf irgendeine Art hatte verabschieden können. Wohin war er gebracht worden? Die Patres beantworteten die Frage des Knaben nicht. Er wollte glauben, der Freund könne nur freigelassen worden sein. Denn das, was man hören wollte, hatte er bestimmt nicht gestanden, und was hätte man ihm sonst nachweisen können? Aus diesem Gedanken schöpfte er die Hoffnung, auch er werde bald wieder in Freiheit sein, vielleicht mit strenger Buße belegt, auf Schritt und Tritt bewacht, aber doch frei, frei! Er kannte im Wachen und Schlafen keinen anderen Gedanken mehr.
    Noch immer klang die ferne Musik und lockte die Gedanken ins Freie hinaus, in immer weitere Kreise, wie sie die Schwalben an klaren Abenden hoch über der Dachluke zogen. Zum erstenmal begriff der Knabe, daß jenseits seiner Kerkerwände die Welt weiterging. Was war diese halbdunkle Kammer denn anderes als ein Raum im altersgrauen Gebäude des Adelsseminars, einem Haus unter den Hunderten in dieser Stadt! Sie konnten ihn nicht ewig hier gefangenhalten. Man würde nach ihm fragen, der Vater vor allem. Er würde zu wissen verlangen, wofür sein Sohn bestraft wurde, und wenn er es erfuhr, würde er laut lachen und sagen: Das glaubt ihr doch selbst nicht! Mein jüngster Sohn, ein adeliger Junker und eines Tages Domherr, Bischof vielleicht, und dieser Hexenhokuspokus! Hatte ihn der Vater nicht auch gelehrt, ein Edler dürfe nur von seinesgleichen gerichtet werden? Das wollte er fordern. Sie sollten aufhören mit ihren Beschwörungen und ihn vor den Richter stellen, den höchsten im Land, und wenn das der Kaiser selbst war. Kein Richter konnte ihn um seiner Jugendstreiche willen so hart verurteilen wie die Patres.
    Er ahnte nicht, wie nah ihm in dieser Abendstunde der Vater war, der sich, nur ein paar Straßen entfernt, in einem Gasthofbett

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