Hexenblut
herab. Einen verrückten Augenblick lang fragte sie sich, ob es daran liegen könnte, dass sie ihn nicht namentlich eingeladen hatte. Doch dann hörte sie einen Laut, bei dem ihr das Blut in den Adern stockte. Es war ein wildes, schrilles Lachen.
Langsam drehte sie sich um und sah Owen in seinem Gitterbettchen stehen. Er zeigte mit dem Finger auf die Überreste des Vogels, und sein Gesicht verzerrte sich zu einem Grinsen purer Bosheit.
Er hat den Vogel getötet! Mein Baby hat den unschuldigen kleinen Vogel getötet! Owen ist das Kind, das die Welt vernichten wird. Da wusste sie, was sie zu tun hatte. Und sie musste es rasch tun, ehe sie die Nerven verlor oder Anne-Louise oder ihr Vater sie aufhalten konnten. Sie ging zu Owen, hob ihn hoch und rannte mit ihm zu dem Geheimgang.
Sie fand den richtigen Abschnitt der Wand, bewegte die Hand über eine bestimmte Stelle, wie sie es bei Amanda gesehen hatte, und schlüpfte durch die Öffnung. Die Geheimtür schloss sich hinter ihr, doch sie hielt sich nicht damit auf, ein Licht zu beschwören, sondern rannte schnurstracks den Gang entlang auf die innerste Kammer zu. Owen krähte zufrieden in ihren Armen, und Nicole spürte, wie ihr Tränen die Wangen hinabliefen.
Du hättest es wissen müssen, hättest es glauben müssen, flüsterte eine Stimme ihr ins Ohr.
Ja, hätte sie.
Beeil dich, ehe es zu spät ist, ehe er dich aufhalten kann.
»Ich beeile mich ja!«
Sie erreichte die Kammer und blickte sich verzweifelt um. Zuvor hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sie sich näher anzusehen. In einer Ecke stand ein Altar. Es erschien ihr nur richtig, ihn zu gebrauchen. Sie rannte hinüber und legte Owen auf die mit tiefen Rinnen und dunklen Flecken durchzogene Platte. Das Blut früherer Opfer schien ihn ihr aus den Armen zu ziehen.
Links von dem Alter war ein Schränkchen. Sie öffnete es und fand darin Kerzen, Steine und Kristalle zu verschiedensten Zwecken sowie eine Sammlung von Athamen. Ich sollte ein Reinigungsritual abhalten ... eine Zeremonie, um seine Seele zu läutern und ihn zur Göttin zu schicken, dachte sie, und ihre Hand bewegte sich zu den weißen Kerzen.
Keine Zeit! Tu es jetzt, ehe es zu spät ist.
Sie nahm einen Athame, reckte ihn hoch in die Luft und drehte sich zu Owen um.
Anne-Louise wusste nicht recht, wonach sie in Sir William Moores Büchern und Unterlagen eigentlich suchte. Sie war schon mehrere Stunden lang damit beschäftigt und hatte immer noch nichts Nützliches vorzuweisen.
Und dann entdeckte Anne-Louise etwas, das irgendwie nicht stimmte. Zwischen all den ordentlich aneinandergereihten Büchern lag eines quer auf ein paar anderen, und es ragte schief aus dem Regal hervor. Es war halb in ein Seidentuch gewickelt, und die Stickerei darauf erkannte sie augenblicklich als das Symbol des Hauses Cahors.
Eine Seite war markiert, und sie schlug das Buch dort auf. Sie las von der Zerstörung des Schlosses Cahors in Frankreich, bei der viele Gegenstände von höchstem finanziellem und magischem Wert geraubt worden waren, darunter auch ein Buch mit Prophezeiungen des Schwarzmagiers Merlin.
Anne-Louise las weiter und keuchte plötzlich auf. Ein leiser Knall war zu hören, sie hob den Kopf und sah, wie der Raum sich vor ihr buchstäblich teilte wie ein Vorhang.
Sasha taumelte aus dem Riss hervor und sprang auf, als das Loch sich direkt vor Anne-Louise wieder schloss.
Schwankend stand sie da und sah sich angstvoll um. Dann entdeckte sie Anne-Louise.
»Göttin«, hauchte sie, »ich lebe.« Sie stürzte sich in Anne-Louises Arme. »Ich danke dir.«
Anne-Louise hielt ihre Zirkelschwester fest an sich gedrückt, und Erleichterung durchflutete sie. Sasha war wieder da und anscheinend unverletzt. Aber wie...?
»Sasha«, sagte sie. »Ich habe dich nicht hierhergebracht.«
Die Mutter von Jer und Eli Deveraux hob den Kopf von Anne-Louises Schulter. »Wer war es dann? Ich habe dem Tod ins Auge geblickt. Dann hat auf einmal der Boden gebebt, und ein Portal hat sich aufgetan. Durchzuspringen und sonst wo herauszukommen, war mir lieber, als von Merlin ermordet zu werden.«
Eiskaltes Grauen packte Anne-Louise. »Was?«
»Wo ist Nicole?«, fragte Sasha, packte Anne-Louise bei den Schultern und schüttelte sie kräftig. »Wir müssen sie aufhalten, ehe es zu spät ist!«
»Ich weiß nicht, wo sie ist.« Anne-Louise runzelte die Stirn. »Wobei sollen wir sie denn aufhalten?«
»Owen. Sie will Owen opfern«, stieß Sasha hervor. »Anne-Louise, bitte glaub mir.
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