Hexenblut
golden angehauchten, kaffeebraunen oder blauschwarzen Hautton.
»Wo ist Owen?«, rief sie. »Wo bin ich?«
»Nicole Anderson-Moore, du stehst vor dem Blinden Gericht.«
Ihr Blick schoss von einem Gesicht zum nächsten. Sie wusste nicht, wer gesprochen hatte. Niemand hatte die Lippen bewegt.
»Wo ist mein Baby?«, schrie sie. Sie lief zum nächstsitzenden der Männer und prallte etwa anderthalb Schritte vor ihm gegen eine unsichtbare Barriere. Sie hämmerte mit den Fäusten dagegen. »Owen!«
»Das Baby hat dich hierhergebracht«, sprach die Stimme. Und wieder schien keiner dieser Richter die Lippen bewegt zu haben.
»Was soll das heißen?« Sie warf sich mit der Schulter gegen die Barriere.
»Wenn du dich beruhigst, werden wir es dir sagen.«
»Seid ihr Deveraux?«, erwiderte sie. Dann geschah etwas. Irgendetwas veränderte sich. Sie blickte nacheinander in die glatten Gesichter. Milchig weiße Augen starrten zurück.
»Wir sind weder Deveraux noch Cahors, noch tragen wir sonst irgendeinen menschlichen Namen«, erklärte die Stimme. »Wir befinden uns jenseits von alledem.«
»Owen...«
»Das ist der Name, den du ihm gegeben hast.«
Ihr stockte der Atem. »Hat er noch einen anderen Namen? Wisst ihr, wer sein Vater ist?«
»Das musst du uns sagen. Deshalb haben wir dich kommen lassen. Damit du es uns bestätigst.«
»Ihr... ihr wisst, wer es ist«, sagte sie langsam. Ihr Herz pochte. Sie schwitzte leicht, und ihr war schwindlig. »Sagt es mir.«
Nach langem Schweigen hörte sie: »Du bist hierhergerufen worden, weil dieses Kind nicht hätte sein sollen.«
Sie war sprachlos. Grauen packte sie. Die wollten Owen etwas antun.
»Doch, doch, das sollte er«, platzte sie heraus. »Natürlich ist es gut, dass er zur Welt gekommen ist.«
»Dann hast du geholfen, das Gleichgewicht der Kräfte zu manipulieren«, sagte die Stimme. »Und für dieses Verbrechen musst du büßen.«
Ise, Japan, 1281: Nicolette, Elijah, Louis und Marie
Kameyama, der im Kloster lebende Kaiser von Japan, legte sich im langen Gewand eines Shinto-Priesters auf den Boden und berührte mit der Stirn die Tatami-Matte. Auf einem Tisch stand der heilige Spiegel der Göttin Amaterasu, Schutzpatronin seines Geschlechts und himmlische Gefährtin des Tenno. Er betete sie ohne Worte an, denn sie kannte jeden Winkel seines Herzens. Es wäre sehr respektlos von ihm gewesen, sie direkt anzusprechen, obwohl sie sich einmal im Jahr fleischlich miteinander vereinigten und damit Japan Segen brachten.
Außerhalb des schlichten hölzernen Schreins beteten Tausende von Kameyamas Untertanen. Dies war das größte Massengebet, das je abgehalten worden war, und der Glaube, dass Japan unter göttlichem Schutz stand, war in der riesigen Versammlung zu spüren wie ein lebendiges Wesen. Hatte Amaterasu nicht erst vor sieben Jahren ihre Feinde durch ein Unwetter zurückgeschlagen?
Doch diesmal waren die Mongolenhorden des furchterregenden Kublai Khan hundertvierzigtausend Mann stark. Sie kamen mit viertausendvierhundert Schiffen und kämpften mit neuen Waffen und neuen Strategien. Sie fochten nicht auf die traditionelle japanische Art - ein Krieger gegen den anderen in ehrenhaftem und kunstvollem Kampf. Stattdessen arbeiteten sie in riesigen Formationen zusammen, die sich wie ein seltsames, übergeordnetes Wesen bewegten. Die japanische Armee bestand aus nur vierzigtausend Kriegern, die gelernt hatten, dem Feind respektvoll Auge in Auge zu begegnen - und das brachte ihnen den Tod. Das Meer färbte sich rot von japanischem Blut.
Sieben Jahre zuvor war Japan durch heftige Unwetter auf See gerettet worden, bei denen die Hälfte der mongolischen Flotte gesunken war. Diese außergewöhnliche Wettererscheinung hatte gewiss die große Göttin Amaterasu hervorgebracht. Und wenn sie das Flehen ihrer hingebungsvollen Anhänger hörte, würde sie noch einmal ein solches Wunder wirken. Also wurden tage- und nächtelang ununterbrochen Gebete gesprochen und mit Räucherwerk, Glocken und Gesängen gen Himmel gesandt.
Aber das Wetter war auch heute schön, und überall an der Küste schlachteten die Feinde Kameyamas Männer ab. Mongolische Pfeile und mongolische Klingen mähten treue Samurai nieder wie junge Reispflanzen. Kameyama fürchtete, dass sich bald auch die japanischen Feinde der kaiserlichen Familie gegen den derart geschwächten Chrysanthementhron erheben könnten.
Also betete Kameyama zu seiner Göttin. Verborgen in den Schatten bemühten sich die mächtigste
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