Hexenblut
groß ist die Chance, dass ein Asiate oder ein Schwarzer durch ein Weißenviertel schlendert und nach Frauen Ausschau hält? – Sie liegt bei null Prozent. Und jetzt denken Sie an Rebecca Nurse, die von ihrem Haus in Higham zum Pub spaziert. Ein Asiate, der sich auf den Landstraßen rumtreibt, würde den Leuten im Gedächtnis bleiben, und irgendjemand hätte ihn gemeldet. Ein weißer Mann dagegen ist allein schon durch seine Hautfarbe getarnt. Er fällt nicht auf, und wenn irgendwas nicht nach Plan läuft, kann er abtauchen, ohne dass jemand auf ihn aufmerksam wird.«
»Und was macht Leute wie ihn zum Serienmörder?«, wollte ich wissen.
»Als Serienmörder wird man geboren, man wird nicht dazu gemacht«, erläuterte Joe. »Allerdings ist ein Ereignis erforderlich, das die Veranlagung sozusagen aktiviert. Nach außen hin kann ihre Vorgeschichte völlig harmlos aussehen – die Eltern sind nach wie vor verheiratet, man lebt in stabilen Familienverhältnissen, in einer ruhigen Nachbarschaft. Aber ihr Leben wird auf eine unsichtbare Weise verpfuscht, zum Beispiel durch psychische Störungen innerhalb der Familie, durch Alkohol- oder Drogenmissbrauch, durch häusliche sexuelle Gewalt. Diese Dinge sind uns allerdings nicht immer bekannt. Die späteren Täter flüchten sich in Gewaltfantasien, die ihnen alles erlauben, was ihnen in der realen Welt verwehrt ist. Aber dann gibt es irgendeinen Auslöser, und sie übertragen ihre Gewaltfantasien aus der Traumwelt in die Realität.«
»Das heißt, es laufen Massen potenzieller Mörder durch die Gegend, deren Veranlagung nur noch nicht aktiviert worden ist?«
»Denken Sie an den Krieg«, sagte Joe, »und daran, was gewöhnliche Soldaten dann tun. Was glauben Sie, was für einen Veteranen das schlimmste Trauma ist?«
»Wenn sie mitansehen müssen, wie ihre Kameraden getötet werden?«, konnte ich nur raten.
»Falsch.« Joe schüttelte den Kopf. »Es sind die Leute, die sie selbst getötet haben. Diejenigen, die sie haben sterben sehen, weil das etwas ist, das sie getan haben. Es belastet ihr Gewissen. Während des Zweiten Weltkriegs zielte ein Fünftel der Soldaten absichtlich daneben. Bedenken Sie andererseits, wie sich manche von ihnen benehmen, wenn sie im Namen der Vergeltung oder der ethnischen Säuberung morden und vergewaltigen. Ganz normale Soldaten tun das, nicht nur Generäle haben es zu verantworten. Daran sehen Sie, dass manche Menschen zum Töten geboren sind, andere dagegen nicht.«
»Und wie kann man diese Leute erkennen?«, fragte ich ehrlich bestürzt.
»Man kann sie bereits in jungen Jahren erkennen«, seufzte er. »Zu der Zeit kann man allerdings nichts unternehmen. Sie quälen Tiere, legen Brände und so weiter. Das sind alles Warnzeichen, aber das Problem ist, dass andere Kinder auch schon mal so was machen.« Dann beugte er sich vor und fuhr fast im Flüsterton fort: »Manchmal jedoch sieht man einen Teenager und weiß einfach, dass er anders ist. Wenn man Jugendliche in eine Zelle steckt, dann werden sie wütend, oder sie fangen an zu weinen. Andere bekommen es mit der Angst zu tun oder werden frech. Aber hin und wieder ist einer dazwischen, der keine Regung zeigt. Der setzt sich in die Zelle und stiert auf einen Punkt, und da wird einem klar, der hat eine Grausamkeit begangen, nur weil er wissen wollte, wie sich das anfühlt.«
»Und warum werden die nicht einfach in einer Datenbank erfasst?«, wunderte ich mich.
Joe schüttelte den Kopf. »Irgendjemand würde sich beschweren, dass wir gegen den Datenschutz verstoßen und dass wir Menschen von vornherein zu Serienmördern abstempeln.« Er lachte leise. »Aber selbst wenn wir eine solche Datenbank hätten, wäre es nicht sicher, dass wir deswegen jemanden zu fassen bekämen. Denken Sie an all die berüchtigten Serienmörder: Harold Shipman, Dennis Nilsen, Peter Sutcliffe. Sie alle wurden durch Zufall geschnappt. Dennis Nilsen kamen wir nicht wegen seines Profils auf die Spur, sondern weil die Abflüsse in seiner Wohnung mit menschlichem Fett verstopft waren. Peter Sutcliffe, der ›Ripper von Yorkshire‹ wurde erwischt, weil er sich mit einer Prostituierten in die Büsche verzog, und als die Polizei da noch einmal nachsah, stieß sie auf einen Hammer. Und bei Harold Shipman war es die Habgier, die ihn verriet. Er verfasste ein Testament, das dazu führte, dass die von ihm begangenen Morde entdeckt wurden. Wenn Sie sich die gelösten Fälle der jüngeren Zeit ansehen, dann geben nicht die Profile
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