Hexengericht
Tapisserien, und bequeme Möbel luden zum Ausruhen ein. Vor dem Kamin ließ Gousset seinen Gast stehen und rief nach seinem Diener.
»Ihr wünscht, Seigneur?«
»Wo hast du deine Gedanken?«, schimpfte Gousset. »Bruder Raphael ist halb erfroren. Bring ihn ins Arbeitszimmer. Schaff sofort Weinbrand und eine Decke her. Und eil dich!« Zu Raphael gewandt sagte er: »Verzeiht meinem Diener, Bruder. Noch heute bekommt er zwanzig Stockhiebe.«
Raphael winkte schnell ab. »Bitte nicht, Seigneur. Es ist halb so schlimm.«
Der Famulus brachte eine warme Decke und eine Karaffe besten Weinbrands. Mit gesenktem Kopf verließ er den Raum.
Gousset warf Raphael die Decke um die Schultern und schenkte reichlich Weinbrand ein. Nach einem großen Schluck fühlte Raphael sich besser.
»Nun, lieber Bruder«, sagte Gousset, »was führt Euch her?«
»Ich bin auf der Flucht«, sagte Raphael mit fester Stimme. »Man trachtet mir nach dem Leben.«
Überrascht stellte Gousset sein Glas auf einen Tisch. »Nach dem Leben? Euch? Wer, in Gottes Namen, sollte so etwas tun?«
In kurzen Worten erläuterte Raphael Gousset seine Lage. Beginnend mit Henris Ernennung zum neuen Prior, über den Hexenprozess gegen Anne Langlois und ihre Tochter, bis zu seiner überstürzten Flucht aus dem Kloster. »Und nun komme ich zu Euch … als einem Freund«, schloss er.
Kaum hatte Raphael geendet, da stieß Gousset hervor: »Egal, was es ist. Ihr bekommt es von mir. Sagt mir, wie ich Euch helfen kann.«
Langsam senkte Raphael den Blick. »Habt Dank, Seigneur. Ihr seid ein guter Mensch«, flüsterte er.
Mit beiden Händen wehrte Gousset ab. »Einem frommen Mann und Freund, wie Ihr es seid, zu helfen, ist eines Christen oberste Pflicht.«
»Alles, worum ich Euch bitte, sind einige Sous, damit ich in Les Andelys eine Karte kaufen kann.«
»Eine Karte?«, fragte Gousset und strich sich über die grauen Haare. »Wozu braucht Ihr eine Karte?«
»Ich reise nach Avignon«, antwortete Raphael. »Zum Heiligen Vater, um ihn über die unchristlichen Machenschaften von Prior Henri zu unterrichten.«
Überrascht starrte Gousset seinen Gast an. »Ihr habt einen wahrhaft kühnen Plan, Bruder. Woher wisst Ihr, dass der Papst Euch Glauben schenken wird und nicht dem Prior?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Raphael. »Ich weiß nur, dass ich alles versuchen muss, um unschuldige Menschen vor dem Scheiterhaufen zu retten. Selbst wenn ich dabei mein Leben verliere.« Er verschwieg, was er außerdem über Henri herausgefunden hatte. Es ging niemanden außer dem Papst etwas an, dass Henri Teufelswerk praktizierte.
»Ihr spielt ein gewagtes Spiel«, meinte Gousset ernst. »Avignon ist weit, die Reise lang und gefährlich. Zweifelsohne hat Henri längst Soldaten ausgesandt, Euch zu fassen.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Herein schritt eine anmutige junge Dame mit feuerroten Haaren und blauen Augen. Gousset erhob sich, ging der Dame entgegen und nahm sie bei der Hand. »Jeanne«, sagte er. »Du erinnerst dich an Bruder Raphael?«
Jeanne Gousset machte einen Knicks und sagte: »Aber gewiss. Es ist schön, Euch wiederzusehen, Bruder.«
Raphael war aufgestanden und erwiderte das scheue Lächeln der Hausherrin. Sie war in seinem Alter – und damit halb so alt wie ihr Mann. Eine herbe Schönheit mit einem breiten Mund und weit auseinander liegenden Augen, die melancholisch entrückt schauten. Raphael ahnte, woher der traurige Ausdruck kam. Gousset hatte Jeanne vor einigen Jahren ihrem Vater abgekauft. Nun, abgekauft entsprach nicht ganz der Wahrheit. Erpressung traf die Sache eher. Einer von Goussets Untervasallen, Jeannes Vater, war vor Jahren in finanzielle Not geraten. Seine Äcker waren in der Hitze des Sommers 1341 verdorrt, das Vieh war verendet, und er besaß keinen Sou, um Saatgut für die nächste Ernte zu kaufen. Schließlich wandte er sich an seinen Grundherren, um Aufschub der Abgaben zu erwirken oder einen kleinen Kredit zu erhalten. Doch Gousset blieb hart, bis … ja, bis er zum ersten Male Jeanne sah. Gousset stellte seinen Bauern vor die Wahl: entweder das Land aufzugeben und elend zu Grunde zu gehen oder aber ihm Jeanne zur Frau zu geben und ein sorgenfreies Leben zu führen. Jeannes Vater hatte keine Wahl, und so war Goussets Wunsch in Erfüllung gegangen. Raphael störte sich nicht an dieser Regelung, war doch eine derartige Vereinbarung nicht unüblich.
Jeannes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken: »Ihr seht sehr müde aus, Bruder
Weitere Kostenlose Bücher