Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
Vom Netzwerk:
halten. Seine Kräfte auf die Augenblicke im Leben zu konzentrieren, in denen sie vonnöten sind.«
    »In der Tat«, sagte Raphael. »Seine Unbeherrschtheit ist seine Schwäche.«
    Vor Lunas und Pierres Kammer blieben sie stehen.
    »Oh!«, stieß Juda hervor. »Bevor ich es vergesse. Wartet einen Augenblick auf mich.« Er eilte davon.
    Raphael hörte, wie Juda die Tür zu seinem Schlafgemach öffnete. Schließlich kehrte er zurück, in der Hand ein blaues Fläschchen. Er gab es Raphael.
    »Was ist das?«
    »Ein Exzitans aus verschiedenen Kräutern«, erklärte Juda. »Es regt Geist und Körper an. Ich selbst nehme jeden Morgen fünf Tropfen davon. Es wirkt Wunder. Gebt es Luna, und sagt ihr, sie soll drei Tropfen vor dem Frühstück und drei vor dem Mittagsmahl nehmen.«
    »Ich richte es ihr aus«, sagte Raphael.
    »Und grüßt das Kind von mir. Ich sehe morgen früh nach ihr. Gute Nacht.«
    »Gute Nacht, Juda«, sagte Raphael. Er klopfte dreimal und trat ein.
    Luna lag auf der Seite, das Gesicht Pierre zugewandt, und lachte. Pierre hatte eine Kerze zwischen die Betten gestellt und warf mit beiden Händen Schattenfiguren an die Wand. Raphael glaubte, seine eigenen Umrisse zu erkennen, doch Pierre ließ geschwind die Hände fallen.
    »Guten Abend, ihr zwei«, sagte Raphael.
    »Guten Abend, Bruder Raphael«, sagten die beiden wie aus einem Mund.
    »Wie fühlst du dich heute, mein Kind?«, fragte Raphael das Mädchen.
    »Es geht mir jeden Tag besser«, antwortete Luna. »Ich habe den ganzen Nachmittag im Garten gelegen. Es war herrlich, die Sonne auf der Haut zu spüren.«
    Raphael nahm die Kerze vom Stuhl und stellte sie zurück an ihren Platz auf dem kleinen Tisch. Dann setzte er sich und tätschelte Lunas Fuß unter dem Laken. »Ich freue mich sehr, dass deine Gesundung so vorzüglich voranschreitet.« Er holte tief Luft. »Fühlst du dich stark genug, mir einige Fragen zu beantworten.«
    »Ja«, versicherte Luna. »Frag nur.«
    Raphael warf Pierre einen kurzen Blick zu.
    Der verstand sofort. »Ich komme später wieder.« Er schwang die Beine aus dem Bett.
    »Warte«, sagte Luna. Als Raphael ihr einen fragenden Blick zuwarf, fügte sie hinzu: »Pierre weiß um mein Problem. Ich habe es ihm erzählt.«
    Raphael dachte kurz nach. Es war ihm nicht recht, dass Pierre vor allen anderen eingeweiht war. Viel lieber hätte er vorab noch einige Worte mit Luna gewechselt, bevor sie den Freunden offenbarten, dass sie ihre Fähigkeit verloren hatte. »Gut«, sagte er schließlich. »Spürst du Anzeichen, dass deine Gabe zurückkehrt?«, fragte er Luna.
    Bekümmert verzog Luna den Mund. »Nein«, flüsterte sie. »Selbst in meinen Träumen sehe ich die Zukunft nicht.«
    Raphael erinnerte sich, dass Luna einmal berichtet hatte, auch im Schlaf würden sie deutliche Bilder erreichen.
Seine Hoffnung, sie würde ihre Gabe zurückerlangen, sobald die Krankheit aus ihrem Körper wich, schwand dahin. Aufmunternd lächelte er ihr zu. »Sorge dich nicht«, sagte er. »Du kannst bald wieder sehen. Das verspreche ich dir.«
    »Ich weiß nicht«, gab sie kaum hörbar zurück.
    »Was war das Letzte, das du vor der Krankheit erblickt hast?«
    »Nur Schatten und Schemen«, antwortete Luna. »Fließende Wasser in einem dunklen Wald, in denen sich das Mondlicht spiegelt.«
    »Keinerlei Einzelheiten?«
    »Nein. Gar nichts.«
    »Weißt du zumindest, in welche Richtung wir gehen müssen?«, fragte Raphael weiter. »Was mit uns geschieht? Was mit Imbert geschieht? Mit Henri?«
    »Ich weiß überhaupt nichts«, sagte Luna. Ihre Stimme klang auf einmal lauter. Und trotzig.
    Raphael wollte noch nicht aufgeben. »Der kleinste Hinweis könnte entscheidend sein. Bitte, denk nach.«
    Lunas Augen wurden feucht. Zwei Tränen liefen über ihre Wangen. »Hörst du nicht, was ich dir sage?«, presste sie hervor. »Ich sehe nicht mehr als du, Jeanne oder Pierre.« Sie legte sich hin und zog das Laken bis unters Kinn. »Und jetzt möchte ich schlafen.«
    Nur zu gern hätte Raphael sie in den Arm genommen, sie an seine Brust gedrückt und mit sanften Worten getröstet. Wie schutzlos sie dalag! Eingehüllt in Verbände, die dort, wo die Beulen aufplatzten, durchnässt waren. Wie eine Mumie auf den alten Zeichnungen, die er einst studiert hatte. Zerbrechlich wie feinste Keramik. Ächzend stand er auf. »Vergib mir«, sagte er zu Luna, die die Augen geschlossen hielt. Er wartete auf irgendeine Reaktion. Aber Luna schwieg und stellte sich schlafend. Er stellte Judas

Weitere Kostenlose Bücher