Hexengericht
Exzitans auf den Tisch und erklärte ihr, wie sie es einnehmen sollte. Dann sah er zu Pierre hinüber, der an der Wand lehnte und das Kissen auf seinen Beinen knetete. »Gute Nacht, Pierre.«
»Gute Nacht, Bruder Raphael.«
Raphael öffnete die Tür, ging hinaus, blickte ein letztes Mal zu Luna, aber sie rührte sich nicht. Leise zog er die Tür zu.
Er hatte die Treppe noch nicht erreicht, da hörte er, wie Luna lauthals seinen Namen rief. Er eilte zurück und öffnete die Tür. Luna saß aufrecht im Bett.
»Ja?«, fragte er.
»Schlaf gut, lieber Raphael«, sagte sie und lächelte.
Raphael lächelte zurück. »Du auch, mein Kind.« Er nickte ihr zu und schloss wieder die Tür.
Er lächelte noch, als er in die Bibliothek zurückkehrte, wo Jeanne ihn erwartete. Mit wenigen Worten erzählte er ihr, was er mit Luna besprochen hatte.
Eine Weile plauderten sie noch. Dann löschten sie die Kerzen, und Jeanne schlief in Raphaels Armen ein. Der jedoch fand die ganze Nacht lang keinen Schlaf.
Der letzte Sinn
A m Morgen des vierzehnten Tages nach Lunas Erwachen weckte Raphael die Freunde gleich nach dem ersten Hahnenschrei. Als er in die Kammer zu Luna und Pierre kam, waren die beiden längst angekleidet und trieben ihre Späße. Die Wunden an Lunas Körper waren gut verheilt. Bald schon würden die äußerlichen Spuren der Pest verwischt sein. Pierres Blessuren waren längst verschwunden. Raphael sagte ihnen, sie sollten sich auf die Abreise vorbereiten.
Im Garten fand er Amicus, der schnarchend unter der Kastanie lag. Er weckte ihn und bat auch ihn, baldmöglichst abreisebereit zu sein.
Zu guter Letzt weckte Raphael Jeanne. Schlaftrunken öffnete sie die Augen. »Es ist an der Zeit«, sagte Raphael.
»Schon?« Sie gähnte. »Ihr habt Euch eine frühe Stunde ausgesucht. Das Frühstücksmahl nehmen wir doch noch ein, oder?«
»Gewiss«, sagte Raphael. Er stand auf und goss frisches Wasser, das er aus dem kleinen Brunnen in Judas Garten geholt hatte, in eine Schale.
»Habt Ihr eine Entscheidung getroffen?«, fragte Jeanne, während sie Gesicht und Hals wusch.
»Ihr meint, in welche Richtung wir reiten sollen?«
Jeanne nickte.
»Nein«, sagte Raphael. »Aber ich weiß, wen ich danach zu fragen habe.«
Jeanne drehte sich zu ihm um. »Ihr sprecht in Rätseln.«
Raphaels Antwort bestand aus einem breiten Lachen. Er wollte sie nicht in seine Pläne einweihen. Noch nicht.
Kurz darauf trafen sich alle am großen Tisch in der Küche. Allein Juda fehlte. Als Amicus nach ihm fragte, zuckte Raphael nur mit den Achseln.
Die meiste Zeit schwiegen sie. Raphael aß wenig und mit geringem Appetit. Schließlich stand er auf und sagte: »Entschuldigt mich. Ich habe noch etwas zu erledigen.« Auf die fragenden Blicke der anderen reagierte er nicht.
Sein Herz pochte wild, als er die schmale, knarrende Treppe nach oben ging. Gleich sollte es sich erweisen, ob seine Vermutung richtig war.
Vor der Kammer des Arztes hielt er inne. Er atmete tief durch – dann klopfte er an die Tür. Juda rief ihn herein.
Der Medicus stand vor dem Fenster neben seinem Bett und schaute hinaus. »Guten Morgen, Bruder Raphael«, sagte Juda, ohne sich umzudrehen.
Raphael trat ein. »Guten Morgen auch Euch, Juda.«
»Seht hinaus. Es verspricht ein schöner Tag zu werden.«
Raphael stellte sich neben Juda und blickte aus dem Fenster. Wolkenfetzen zogen am Himmel dahin. Die Sonne stand über dem Horizont. »In der Tat«, sagte er.
Langsam wandte sich Juda seinem Gast zu. »Ihr reist heute ab?«
»Ja«, antwortete Raphael. »Sofern Ihr Lunas Genesung als abgeschlossen anseht.«
»Das ist sie.«
»Ich …«, setzte Raphael an. »Ich bin gekommen, um Euch zu danken. Ohne Euch hätte keiner von uns diesen Morgen erlebt. Wir schulden Euch mehr, als alles Gold der Welt zu begleichen vermag.«
Juda lächelte milde. Seine Augen strahlten. » Ich bin es, der Euch zu danken hat. Ihr habt dem Leben eines alten Mannes einen letzten Sinn gegeben.«
Raphael verstand nicht, was Juda damit sagen wollte. Er traute sich jedoch nicht, ihn danach zu fragen. Es gingen ihm ohnehin ganz andere Dinge durch den Kopf. »Da ist noch etwas, über das ich mit Euch sprechen möchte.«
Juda lachte auf, und Raphael sah verlegen zu Boden.
»Ich weiß«, sagte Juda. »Stellt die Frage, die Euch seit Wochen auf der Seele liegt.«
Raphael hüstelte. »Ihr habt sie auch, nicht wahr? Die Gabe, meine ich.« Jetzt war es endlich heraus.
»Ihr wisst die Antwort längst«,
Weitere Kostenlose Bücher