Hexengericht
über sein Geschick wäre, könnte er mehr Vertrauen in diesen Plan haben.
Eine letzte Frage blieb noch zu klären. »Wohin sollen wir uns wenden, wenn wir Montpellier verlassen haben?«
Juda wirkte unschlüssig. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Euer Weg ist gewunden wie der Leib einer Schlange. Alles, was ich sehen kann, ist ein Bär. Sagt Euch das etwas?«
Raphael dachte nach. »Nein«, murmelte er. »Sollen wir ihn meiden oder seine Nähe suchen?«
»Auch darauf kann ich Euch keine Antwort geben«, sagte Juda. »Ich vermute, Ihr werdet es wissen, wenn der Augenblick gekommen ist.«
Enttäuscht starrte Raphael aus dem Fenster. Er hatte gehofft, Juda könnte ihm wertvolle Hinweise für die Zukunft geben. Jetzt waren sie blind wie alle Menschen. »Wohlan«, sagte er schließlich. »Wir brechen auf.«
»Wartet«, sagte Juda. »Ich habe noch etwas für Euch.« Er ging hinüber zur anderen Seite des Bettes, wo eine uralte Truhe in der Ecke stand. Er öffnete sie und nahm zwei Bücher daraus hervor. Dann ließ er den Deckel hinunter. Lächelnd ging er zu Raphael zurück. »Ich möchte, dass Ihr das an Euch nehmt.« Er gab Raphael die zwei Bücher.
Eines erkannte dieser sofort. »Das Buch der Drogen?«, entfuhr es ihm. Er war so überrascht, dass er keine Worte fand. »Das …«, sagte er stotternd. »Das kann ich nie und nimmer annehmen, Juda.«
»Das müsst Ihr sogar.« Juda lächelte. »Für mich hat es seinen Zweck erfüllt. Nun liegt es an Euch, es im Sinne der Menschlichkeit einzusetzen. Zudem … einst wird es der Schlüssel sein, der Euch Einlass in einen Bereich gewährt, den Ihr ohne das Buch nie betreten könntet. Vergesst das nie.«
Auch diese Andeutung verstand Raphael nicht. Und er wusste, dass seine Fragen unbeantwortet bleiben würden. Wie im Traum studierte er das andere Büchlein. Auf den Seiten standen Formeln, Rezepturen und Wirkungsweisen von Kräutern und Arzneien. »Was ist das?«
»Mein Dispensatorium«, antwortete Juda nicht ohne Stolz in der Stimme. »Mein Lebenswerk sozusagen. Die Arbeit und Erfahrung von vier Jahrzehnten steckt zwischen diesen Deckeln. Bewahrt es gut.«
Raphael schüttelte den Kopf und hielt Juda die Bücher hin. »Euer Geschenk ehrt mich, aber es ist mir unmöglich, es zu behalten. Bitte, nehmt die Bücher wieder zurück.«
Juda wehrte mit beiden Händen ab. »Tut einem alten Mann einen Gefallen und nehmt das Geschenk an. Es ist mein Wunsch, dass Ihr das Wissen dieser Seiten weitertragt. Wer weiß, wie lange ich noch zu leben habe? Es gibt keinen Erben, dem ich diesen Schatz vermachen kann. Wollt Ihr, dass nach meinem Tod irgendwelche Narren diese Bücher in die Hände bekommen?«
»Ihr sprecht, als würdet Ihr bald sterben«, sagte Raphael.
Juda formte mit den Händen eine Schale. »Irgendwann kann ich dem Tod nicht mehr entkommen. Aber wenn die Stunde naht, kann ich im Wissen um das Schicksal dieser Bücher unbesorgt meine Augen schließen.«
»Nun gut«, sagte Raphael zögernd. »Ich will Euch diese Bitte nicht abschlagen und danke Euch für Euer Vertrauen. Ohnehin habe ich Euch für so vieles zu danken. Ohne Eure …«
»Keine Abschiedsreden«, unterbrach Juda ihn. »Sie stimmen mich melancholisch. Lasst uns frohen Mutes auseinander gehen.«
Raphael nickte. Er klemmte die Bücher unter den Arm und folgte Juda nach unten und hinaus in den Garten.
Alle Freunde waren versammelt. Lächelnd erwarteten sie den Medicus. Amicus ging zuerst auf Juda zu, ergriff dessen Hände und sagte nur: »Habt Dank, Maître.« Andächtig ging er rückwärts zu seinem Platz zurück.
Nun war Jeanne an der Reihe. Sie schlang ihre Arme fest um Judas schmale Schultern. Dann gab sie ihm zwei schmatzende Küsse auf die Wangen.
Auch Pierre reichte Juda zum Abschied die Hände. Er sagte: »Ihr seid ein großer Arzt und wunderbarer Mensch. Nie werde ich Euch vergessen.«
Juda winkte ab. Verstohlen wischte er eine Träne weg. Dann sah er Luna an und streckte die Arme aus. Bisher hatte sie ihre Gefühle noch unterdrücken können, doch jetzt lief sie weinend auf den alten Mann zu und presste sich zitternd an seine Brust. Juda strich ihr sanft über das Haar. Dann nahm er ihren Kopf in beide Hände, bog ihn ein wenig zurück und küsste ihre Stirn. Liebevoll lächelnd sah er ihr in die Augen. Die beiden schienen sich wortlos zu verstehen. Lunas Schluchzen verklang. Ihre Augen waren wieder trocken, ihr Körper entspannte sich. »Ich bin immer bei dir«, flüsterte er.
Nur langsam
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