Hexengift
der Marlas Verwirrung offensichtlich bemerkt hatte.
Marla musste sich mächtig konzentrieren, um etwas zu antworten, und bevor sie einen Ton aus ihrer eigenen Kehle herausbrachte, ließ sie das Mischwesen ein ohrenbetäubendes Kreischen ausstoßen - den Schrei einer Möwe, hundertfach verstärkt von der enormen Körpergröße. »Das scheint einigermaßen logisch«, sagte sie schließlich. »In der Mythologie wurden Stiere immer mit den Meeresgöttern assoziiert, genauso wie Pferde. Eine Möwe ist immerhin ein Seevogel, also passt das wohl auch, schätze ich.«
»Und zum Glück ist es eine Möwe«, sagte Ernesto mit einer Stimme, als wolle er einen Witz reißen. »Schließlich müssen wir zu meiner Müllhalde. Möwen lieben sie, und so wird unser Reittier den Weg umso besser finden.«
Marla ließ die Zügel los und sprang von ihrem Reittier herunter, das von einem Moment auf den anderen wieder nur ein Tier war, keine Erweiterung ihrer selbst. Fromm wie ein Lamm stand es da - Langfords elektronische Zügel machten es zu einer Art Roboter im Standby-Modus, und Marla verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. War es wirklich nur ein Tier, oder hatte es ein Bewusstsein? War es verwirrt, verängstigt oder vielleicht wütend? Es war der Spross einer Gorgone, die vor langer Zeit hingeschlachtet worden war, und eines Gottes, an den niemand mehr glaubte. Wer konnte schon sagen, was alles in ihm steckte? Marla ging um den Bullen mit dem Möwenkopf herum, tätschelte seine Flanke und ging kurz in die Knie, um nachzusehen, ob er anatomisch vollständig war - ja, es war in der Tat ein Stier, und besser ausgestattet als die meisten. Abgesehen von seiner Größe jedoch war das Tier gar nicht einmal so beängstigend. Nur der Kopf mit seinen glasigen, schwarzen
Augen, dem gelben, spitzen Schnabel und dem glatten Gefieder - er war größer als der eines Pferdes und einigermaßen furchterregend, auch wenn es sich um den eines Aasfressers und nicht den eines Raubvogels handelte.
»Ich schätze, das Überraschungsmoment haben wir auf jeden Fall auf unserer Seite«, meinte Ernesto. »Reave wird kaum damit rechnen, dass wir auf einem weißen Stier angeflogen kommen. Wollen wir dann mal … äh, wie kommen wir eigentlich auf den Rücken des Tiers?«
»Zealand, kannst du mit deinen Reben eine Art Sattelzeug für uns flechten? Etwas, an dem wir uns festhalten können?«
»Natürlich«, sagte Zealand und ließ seine Moosranken um den Rumpf des Tieres kriechen. Er wob eine Art Netz um den Körper der Kreatur, ließ die Flügel aber frei. Zealand musste mit seinen Händen immer in Kontakt mit dem Moosnetz bleiben - sobald er es losließ, würde es in Sekundenschnelle vertrocknen und zu Staub zerfallen. Marla kletterte als Erste hinauf und setzte sich direkt hinter den Kopf des Tiers, dann folgte Zealand, Ernesto kam zum Schluss. Marla wollte dem Sagengeschöpf etwas ins Ohr flüstern, ihm sagen, dass es ihr leidtat und dass sie es bald freilassen würde, aber sie war sich nicht einmal sicher, wo ein Vogel seine Ohren hatte. Auf keinen Fall würde sie Langford gestatten, dieses herrliche Geschöpf zu sezieren. Es war viel zu schön und zu geheimnisvoll. Irgendwo würde sie eine Heimat für ihr Reittier finden, vielleicht auf dem Grundstück des Blackwing Institute. Im Moment jedoch musste sie sich damit begnügen, sein Gefieder zu streicheln.
»Könnt ihr euch alle gut festhalten?«, fragte sie. Sie konnten,
und Marla setzte ihre Fliegerbrille auf, nahm die Zügel in die Hand und lernte fliegen.
Nicolette mochte Reaves Turm nicht. Er war dunkel und kalt, seine langen Gänge waren verwirrend und geradezu klaustrophobisch, überall ragten Stacheln in den seltsamsten Winkeln aus Boden und Wänden. Das ganze Gebäude war schlichtweg bescheuert , kein Ort, um darin zu leben, nicht einmal für eine Chaosmagierin. Traumarchitektur war nicht dazu gedacht, in der realen Welt zu existieren. Sie erreichte schließlich Reaves Thronsaal, in dessen obsidianschwarzem Boden sich das flackernde Licht von Kronleuchtern aus menschlichen Rippen spiegelte. Reave selbst saß auf einem Thron aus Totenschädeln. Der Typ ließ aber auch kein einziges Klischee aus - der Saal sah aus wie das Cover eines Gruselromans aus den Siebzigern. Das Einzige, was noch fehlte, waren die amazonenhaften Palastwächterinnen in ihren Kettenbikinis und Genevieve, die an einer goldenen Kette zu seinen Füßen saß. Zumindest bis jetzt.
»Verneige dich vor mir«, sagte
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