Hexengift
nach. Es gab eine Nahkampftechnik, bei der man den Gegner mit der flachen Hand aufs Ohr schlug, was seinen Gleichgewichtssinn sofort außer Kraft setzte. Genauso fühlte er sich. Er schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch, bis er wieder Herr seiner Sinne war. Als er die Augen öffnete, stand ein riesiger Palast mitten auf der Straße. Die schimmernden Mauern des Gebäudes reichten bis in den Himmel, stellten seinen Sinn für Größenverhältnisse vollkommen auf den Kopf. Aus den Türmen ragten in regelmäßigen Abständen silberne Masten, an denen gelbe Banner im Wind flatterten. Überall waren verschieden große Spitzbogenfenster eingelassen, dazwischen ein paar muschelförmige Balkone. Der Palast war wunderbar. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Zealand schloss die Augen wieder und zählte bis zehn. Langsam wurde das Geräusch der flatternden Banner leiser und hörte schließlich ganz auf. Er sah sich um: eine vereiste Straße, ein vorüberfahrendes Taxi in der Abenddämmerung, kein Palast.
Er stand auf, nahm seine Tasche und setzte seinen Weg zu Marlas Apartment fort. Für Zealand waren seine sechs Sinne überlebenswichtig; Halluzinationen oder Gleichgewichtsstörungen im falschen Moment konnten den Tod bedeuten. Er hatte sich schon zu lange unter diesen Magiern mit ihren Ritualen und Mysterien aufgehalten. Er wollte nicht in ihrer undefinierbaren, sich ständig verändernden Welt leben. Er würde Marla töten und woanders hingehen, vielleicht zurück nachhause an die Westküste.
Marla wohnte ganz oben im vierten Stock eines ehemaligen Bordells. Es war ein plumpes, halb verfallenes Ziegelhaus,
auf dessen Dach der kunstvolle Schriftzug Hotel Felport sich in aller Ruhe auflöste.Vermutlich waren die Apartments in früheren Tagen von Alkoholikern und anderen gestrandeten Existenzen bewohnt gewesen, aber jetzt lebte Marla ganz allein in dem Haus, im obersten Stockwerk.
Der Eingang wurde von zwei zugeschneiten und halb verfallenen steinernen Löwen bewacht. Einige der leeren Fenster waren mit Karton abgedichtet, durch andere pfiff der Wind ungehindert hindurch, und die in den ersten beiden Etagen waren mit Brettern vernagelt. Die Mülltonnen waren von einem verbogenen schmiedeeisernen Gitter umfasst, und neben dem Vorderrad eines Fahrrads, das mutterseelenallein am Eingangstor festgekettet war, hockte eine fette getigerte Katze. Die Dachrinnen waren gar nicht zu erkennen vor lauter Eiszapfen, die wie gefrorene Nadeln davon herabhingen, und auch vom Überhang des Daches ragten sie Zealand wie die Zähne eines Raubtiers entgegen. Wieder fragte er sich, warum Marla, Königin der Unterwelt von Felport, in einem derart heruntergekommenen Haus lebte.
Die Vordertür war gut gesichert, aber Zealand fand einen Nebeneingang, durch den er nach geeigneter Behandlung mit einer Brechstange eindringen konnte. Als er drinnen war, nahm er sofort die Treppe nach oben, denn er misstraute dem altmodischen Fahrstuhl mit seinen Schiebegittertüren. Mindestens die Hälfte der Beleuchtung im Treppenhaus war kaputt, und überall lag Müll auf den Treppen. Der Flur stank nach Urin, im ersten Stock roch es nach Kotze und im zweiten nach Desinfektionsmittel mit Kiefernaroma. Der dritte Stock roch nach Moder und Motoröl, der vierte nur nach Staub, sonst nichts. Er ging bis zu Marlas
Tür, Nummer 401, und runzelte die Stirn, als er die grob in den Türpfosten geritzten Symbole sah. Sie ähnelten einer Mischung aus arabischen und kyrillischen Buchstaben, manche elegant geschwungen, andere eckig und gezackt. Sie sahen kompliziert aus, unvertraut, keine simplen Pentagramme oder Spiralen. Zealand zog einen langen, biegsamen Metallstab aus der Innentasche seines Mantels, mit dem er manchmal Autos aufbrach. Langsam und vorsichtig bewegte er den Stab auf die Tür zu, und seine Augen weiteten sich, als die Runen in einem blässlichen Blau zu leuchten begannen und das Ende des Metallstabes orangerot anlief; er zog ihn wieder zurück und spuckte darauf. Ein deutliches Zischen war zu hören.
Hm. Das war ein Problem, aber kein unerwartetes. Gregor hatte ihn gewarnt, dass Marla wahrscheinlich über derartige Abwehrzauber verfügen würde, und zusammen hatten sie eine entsprechende Vorgehensweise ausgearbeitet. Zealand kannte den Grundriss der Apartments in- und auswendig. Er ging zum nächsten und klopfte laut an die Tür. Keine Antwort. Seine Observierung hatte zwar ergeben, dass Marla alleine hier lebte, aber es konnte immer unerwartete Gäste
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