Hexengold
kletterte sie bereits allein in den schwankenden Kahn hinüber. »Wo ist er?«, stieß sie atemlos hervor. Suchend huschte ihr Blick über die Ladung im Rumpf des Kahns. Eine weißgraue Möwe zischte dicht an ihrem Kopf vorbei zum Mast in der Mitte. Dabei stieß sie ein gellendes Lachen aus, das Magdalena einen eisigen Schauder über den Rücken jagte. Der aufdringliche Fischgeruch nahm ihr den Atem. Ihr rastloser Blick blieb an einer länglichen Kiste hängen. Ein Sarg. Vinzent! Sie stockte. Entsetzlich, den einst so lebensfrohen Vetter leblos und kalt darin zu wissen.
»Da hinten!« Der Schiffer wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger ins Heck, wo sich ein Stapel Decken auftürmte. »Oh Gott!«, murmelte Magdalena. Kaum wollten ihr die Beine gehorchen, als sie zu dem unförmigen Bündel stolperte. »Eric!« Erleichtert, ihn endlich gefunden zu haben, sank sie auf die Knie.
Er war nicht bei Bewusstsein. Sie fasste nach seiner Hand, suchte den Puls und fühlte ihn schwach, aber gleichmäßig. Als sie wieder zu Atem gekommen war, schlug sie behutsam die Decken auf seinem Körper zurück. Jeder Handgriff verwandelte sie ein Stück mehr in die Wundärztin, als die sie in den letzten Jahren des Großen Krieges gewirkt hatte. Fachmännisch glitt ihr Blick über den reglosen Leib des geliebten Ehemanns. Leider sah sie ihn nicht zum ersten Mal in diesem Zustand vor sich. Für einen Moment schloss sie die Augen und sammelte alle Kraft, um die wieder aufsteigenden Bilder zu verdrängen und sich aufs Jetzt zu konzentrieren.
Die Verbände, die man Eric um den muskulösen Rumpf gebunden hatte, waren blutdurchtränkt, in Fetzen hing ihm die Kleidung vom Leib. Sacht tastete sie den für einen knapp Vierzigjährigen immer noch gut gebauten Körper ab. Gebrochene Glieder hatte er keine, dafür unzählige kleine Stichwunden, Schrammen und Hautabschürfungen. Das Gesicht war von Fausthieben entstellt, die rechte Augenpartie geschwollen und blaurot unterlaufen. Die aufgebissenen Lippen zeugten von den Schmerzen, die er litt. Sie entschied, die Verbände erst zu Hause vollständig zu lösen und die Wunden dort in aller Ruhe zu versorgen. Auf den ersten Blick hatte sie gesehen, dass die zwölf Jahre zurückliegende Verletzung quer über den Bauch wieder aufgerissen war. Schon einmal hatte ihn diese schwere Wunde fast das Leben gekostet. Offenbar hatte jemand sie unlängst zusammengenäht, besonders gut aber war das nicht geschehen. Davon zeugten die blutigen Leinenstreifen sowie die äußerst schlechte Verfassung ihres Gemahls. Als Erstes musste sie die Naht noch einmal nähen und hoffen, dass ihn währenddessen nicht das Wundfieber packte. Unwillkürlich fasste sie nach dem Bernstein. Sanft drückte sie Erics Hand, um ihm zu zeigen, dass er nun bei ihr in Sicherheit war.
»Magdalena!« Ein spitzer Schrei vom Ufer ließ sie zusammenzucken. Sie hob den Kopf und erstarrte: Am Kai war eine hoch aufgeschossene, schlanke Frauengestalt aufgetaucht, Adelaide. Sobald diese sich beobachtet sah, richtete sie sich kerzengerade auf. Die vornehme Frau schien nun nichts mehr mit der verwirrten Person gemein zu haben, die soeben so durchdringend geschrien hatte. Der dunkelgrüne Taft des Kleides sowie die schwarzen, sorgfältig frisierten Haare unterstrichen die besondere Vornehmheit, die sie stets umgab. Selbst aus der Entfernung war ihr anzusehen, dass sie anders als Magdalena nicht wild wie ein Straßenkind zum Hafen gerannt war. Warum auch hätte sie sich eilen sollen, da sie längst wusste, dass es bei Vinzent nicht mehr um Leben und Tod ging? Sie hatte nichts mehr zu verlieren und konnte ihr gewohnt bedächtiges Tempo beibehalten.
Bei Adelaides Anblick überfiel Magdalena ein schlechtes Gewissen. Ihr Gemahl lag zwar schwer verwundet vor ihr, doch immerhin lebte er. Vinzent hingegen befand sich dort hinten in der schmucklosen Holzkiste. Eine leblose Hülle, während eines sinnlosen Raubüberfalls gestorben – fern von zu Hause und weit weg von Frau und halbwüchsigem Sohn. Abermals schloss Magdalena die Augen. Eine schwere Last drückte ihr auf die Schultern. Die nächsten Monate, wenn nicht gar Jahre würden alles andere als einfach werden. So eindeutig das Geschehen war, so sehr würde Adelaide sich dagegen sträuben, der schrecklichen Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Eric hatte überlebt, Vinzent nicht. Magdalena musste nicht nur dafür sorgen, dass Eric so schnell wie möglich wieder zu Kräften kam. Gleichzeitig musste sie der Base
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