Hexengold
wie die Leinwand eines Zeltes. Zufällig war Carlotta am Tag nach dem Tod ihres Vaters dort gestrandet. Stundenlang war sie zuvor verloren durch die Stadt gestreift auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich allein ihrer Trauer hingeben konnte. Der Gedanke, den Vater für immer verloren zu haben, schmerzte noch immer. Zwölf Tage war er nun tot. Vor zehn Tagen hatten die Mutter und sie ihn in aller Stille beerdigt.
Langsam ließ sie sich auf dem trockenen Gras nieder, umschlang die angezogenen Knie mit den Händen und bettete den Kopf darauf. Wenn sie einfach nur geradeaus starrte, gelang es, die Gedanken auszuschalten. Dann war alles nicht wahr, es war nichts Schlimmes geschehen. Geduldig wartete sie. Es funktionierte. Bald versank sie im Anblick der Schiffe auf dem Pregel und vergaß darüber alles um sich herum.
»Schön wär’s, einfach so mit einem Schiff davonzusegeln«, sagte eine leise Stimme hinter ihr. Erschrocken fuhr sie auf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass Lina vor ihr stand, die katholische Magd aus dem Grünen Baum.
»Bist du mir etwa nachgeschlichen?« Böse blitzte sie das strohblonde Mädchen mit dem rundlichen Gesicht und der Stupsnase an. »Geh zurück. Die Wirtin wird dich windelweich prügeln, wenn sie merkt, dass du weggelaufen bist.«
»Und wenn schon.« Lina zuckte gleichmütig mit den Schultern und ließ sich neben ihr auf den Boden nieder. »Sie denkt, ich bin im Keller und sortiere die Vorräte. Das dauert, bis sie was merkt. Wenn überhaupt. Der Wirt ist wieder betrunken. Damit hat sie erst mal genug zu tun.«
»Du musst wissen, was du tust.« Rasch zog Carlotta den Zipfel ihres Rocks beiseite. Linas breiter Hintern war beim Setzen darauf gelandet. Überhaupt missfiel ihr die Nähe, deshalb rückte sie ein Stück ab. Sogleich folgte Lina ihr nach und konnte nun ebenfalls durch die Lücke zwischen den Zweigen auf den gegenüberliegenden Hundegatt und den Pregel schauen.
»Du willst, dass ich wieder gehe«, stellte die Magd nach einiger Zeit fest.
»Wenn du magst, kannst du bleiben.« Carlotta seufzte. »Aber sei ruhig.«
Von neuem schlang sie die Arme um die Knie und starrte auf den Fluss, der träge westwärts floss. Die Sonnenstrahlen tanzten auf den Wellen, Möwen und Enten schwammen darauf. Zwischen den einmastigen Koggen schoben sich Fischerboote und Lastkähne Richtung Seekanal. Das Rufen der Schiffer klang bis zum Ufer. Gelegentlich schwappte eine Welle heran und lief im seichten Grund des Ufers aus. Die beiden Mädchen saßen weit genug vom Rand, um keine nassen Füße zu bekommen.
»Wo willst du eigentlich hin?« Wie von Carlotta befürchtet, hielt Lina das Schweigen nicht lange aus.
»Wie kommst du darauf, dass ich weg will?« Erstaunt wandte sich Carlotta zu ihr um. Sie waren etwa gleich alt. Trotzdem trennten sie Welten in ihrem Denken, das war Carlotta klar, seit sie einige Nächte mit ihr in der schrägen Dachkammer des Grünen Baums verbracht hatte.
»Warum sonst hockst du hier und starrst die Schiffe an?« Lina zupfte ihr helles Kopftuch zurecht. Verträumt sagte sie: »Eines Tages werde ich mich auf eine der Koggen da hinten schleichen und wegfahren. Egal, wohin. Hauptsache, weit weg von hier.«
»Ist es so schlimm im Grünen Baum?« Carlotta stutzte. Trotz ihrer eigenen Sorgen kam sie nicht umhin, nachzufragen. Plötzlich tat ihr Lina leid. »Die Wirtin ist doch ganz nett.«
»Schon, und es ist auch allemal besser als bei uns daheim im Dorf. Trotzdem will ich weg.« Linas gutmütiges Gesicht verfinsterte sich.
»Du kommst aus einem Dorf? Erzähl doch mal!« Carlottas Neugier war geweckt. Bislang hatte sie sich keine Gedanken über das Mädchen gemacht. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein eine große Trauer mit sich herumtrug. Gegenseitiger Trost mochte helfen. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte Linas Knie. Zunächst zuckte die zurück und sah sie verschreckt an. Carlotta lächelte, Lina seufzte. Dann erzählte sie endlich. »Mein Vater ist Fischer. Acht Geschwister habe ich. Kein Zuckerschlecken, sage ich dir. Im Grünen Baum geht es schon viel lustiger zu. Wenigstens gibt es dreimal am Tag was zu essen. Für jeden. Trotzdem will ich nicht mein Leben lang Magd in einem Wirtshaus sein. Der Fritz wird kommen und mir sagen, wann die Gelegenheit günstig ist.«
Bei der Nennung des Jungen blickten ihre grünblauen Augen verzückt in die Ferne. Carlotta spürte, was Lina von ihr erwartete, dass sie ebenfalls von
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