Hexengold
Wurzeln unserer Familien zu ergründen?« Sie trat vor die Wand, an der die große Landkarte hing, und betrachtete die Nadeln, mit denen Vinzent im letzten Frühjahr die Städte markiert hatte, zu denen sie Handelsbeziehungen unterhielten. Die Nadeln sammelten sich vor allem jenseits der Alpen, sowohl rund um Venedig als auch an der französischen Mittelmeerküste. Der Norden Europas dagegen war gänzlich unberührt. »Ich sehe das ganz anders: Es ist eine Schande, dass wir nichts über unsere Ahnen dort oben wissen. Nur, weil unsere Väter sich einst zerstritten haben, ist uns die ganze Familie weggebrochen. Dabei sollten wir es längst als Zeichen begreifen, dass wir mit Englund und Vinzent immer wieder auf versprengte Verwandte gestoßen sind. Das kann kein Zufall sein. Schon den Kindern zuliebe sollten wir herausfinden, was wirklich geschehen ist.«
»Den Kindern zuliebe?« Eric legte ein Schreiben beiseite und trat zu ihr. »Also geht es nicht allein um Carlotta, sondern auch um Mathias. Hat Adelaide dir den Floh ins Ohr gesetzt? Sie hofft wohl, dass wir dabei auf versteckte Goldschätze stoßen.«
»Was ist so schlimm daran?« Magdalena strich den Rock glatt. »Es muss kein vergessener Familienschatz sein. Gute Beziehungen, die auf familiären Bindungen beruhen, reichen völlig. Gerade in unserer derzeitigen Not kann es nur von Vorteil sein, über solche Kontakte zu verfügen. Die Ausweitung der Geschäfte wäre eine große Chance. Denk nur an den Bernsteinhandel, den schon deine Eltern geführt haben. Damit eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Meinst du nicht?«
»Sei ehrlich: Es spielt gar keine Rolle, was ich denke und meine. Du hast deine Entscheidung längst getroffen. Und Adelaide vermutlich auch, nicht wahr? Ich kann euch nur warnen. Es hat seinen guten Grund, dass sich Zunftgenossen wie Diehl, Imhof und Feuchtgruber allein nach Süden orientieren. Ich jedenfalls befolge ihren Rat und nehme das Angebot an, mit ihnen gemeinsam meine Verbindungen nach Italien weiter auszubauen.«
16
Seit Renatas Weggang vor sechs Wochen hatte Carlotta sich nur drei Mal zu Doktor Petersen ins Laboratorium stehlen und ein paar Salben mischen dürfen. Allein bei dem Gedanken wollte sie heulen, hockte sie auch an diesem Nachmittag statt vor einem Destillierkolben in Hedwigs Küche und polierte Kochgeschirr. Eine Träne kullerte ihr über die Wange. Erschrocken bemerkte sie, wie es aus der Nase auf das Leintuch in ihren Händen tropfte. Verlegen sah sie sich um. Hedwig war nicht da. Vermutlich beaufsichtigte sie Mechthild, die im Keller die Sauerkrautfässer überprüfen sollte. Carlotta war also allein und konnte die Gelegenheit nicht einmal ausnutzen. Zu groß war der Stapel Pfannen und Töpfe, die blank gewischt werden mussten. Unmöglich, zeitig damit fertig zu werden, um sich heimlich Ausgang zu verschaffen. Dabei würde sie zu gern wieder unter Doktor Petersens Anweisung die Körper von toten Hirschhornkäfern zerstampfen oder gelbe Senfkörner zermahlen, ganz zu schweigen von dem Abseihen der rötlichen Bernsteinessenz. Nicht einmal die Mutter dachte noch daran, sie auf den Dachboden zu bitten, um die Lavendelsträuße frisch aufzubinden. Seit längerem schon bedurfte sie ihrer Hilfe nicht mehr, weil Tante Adelaide sie unterstützte. Wenn Carlotta nur daran dachte, wie viel Spaß sie dabei haben mussten, kochte sie vor Wut. Oft genug hörte man das mädchenhafte Lachen der beiden bis in die Diele. Sogar der Vater hatte sich schon darüber ausgelassen. Der allerdings kam leider am allerwenigsten auf die Idee, Carlotta aus der Hausarbeit zu erretten und ins Kontor zur rufen. Seit Mathias besser mit dem Rechnen klarkam, war sie auch dort überflüssig.
Noch einmal schniefte sie laut. Hastig wischte sie mit dem Handrücken unter der Nase entlang und fuhr sich anschließend über die Wangen. Darauf tunkte sie abermals das Leintuch in die Mischung aus Seife, Branntwein und Kreide und setzte das Blankreiben des Kupferkessels in ihrem Schoß umso emsiger fort. Wenigstens war es in der Küche angenehm warm. Den ganzen Tag ließ Hedwig das Herdfeuer schüren. Außerdem zog durch das halbgeöffnete Fenster eine Ahnung von Frühlingsluft herein. War an diesem Tag nicht Gregori? Sie erspähte die erste Schwalbe im Hof. Dicht zog sie ihre Bahn am Fenster vorbei zur Scheune. Hedwig deutete das gewiss als gutes Zeichen, dass die Bauern mit der Aussaat beginnen konnten. Carlotta wandte sich dem nächsten Kessel zu.
»Gibt es
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