Hexengold
Nasenwurzeln gruben sich tiefer in die wettergegerbte Haut, der Faltenkranz um die Augenpartie ließ ihn verbittert wirken. Mit einem Mal sah er alt aus. Statt der knapp vierzig Jahre hätte man ihn gut auf fünfundvierzig oder noch älter geschätzt. Wie schnell das Leben verrann! Bei dem bloßen Gedanken erschrak Magdalena. Umso wichtiger, Eric davon abzuhalten, einen schweren Fehler zu begehen und überstürzt aufzubrechen. Zu oft schon hatte er das Schicksal herausgefordert.
»Warum?«, fragte er ein zweites Mal. Sie aber wich keinen Fingerbreit. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter, dennoch genügte ihr entschlossenes Auftreten, ihn vorerst zum Einlenken zu bewegen.
»Also gut«, sagte er, »kurz vor der langen Reise sollten wir nicht streiten. Sag mir, was los ist. Vor wenigen Tagen noch warst du mit meinem Aufbruch einverstanden.«
Er trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Streng wanderte sein Blick über ihre Gestalt. Noch trug sie lediglich ein schlichtes, dunkelblaues Leinenkleid und grobe Filzschuhe an den nackten Füßen. Auf Schmuck oder sonstigen Zierat hatte sie verzichtet. Das lockige, rote Haar fiel offen über ihre Schultern. Ungeachtet der frühen Stunde steckte er bereits in seiner schmucken Reisegarnitur aus schwerem, dunklem Tuch. Goldene Borten und blinkende Knöpfe vervollständigten die Pracht. Seine eingefallenen Wangen waren glatt rasiert. Auch das rotblonde, von grauen Strähnen durchzogene, kinnlange Haar trug er ordentlich frisiert. Trotz alledem machte Magdalena mit ihrer emporgereckten Nase und dem aufrechten Oberkörper eine weitaus bessere Figur als er. Auch wenn er weiterhin breitbeinig mit verschränkten Armen vor ihr stand, waren seine Schultern längst wieder nach vorn gekippt. Die gebeugte Haltung schrie sein schlechtes Gewissen geradezu heraus.
»Ich kann dich nicht gehen lassen, Eric.« Versöhnlich legte sie ihm eine Hand auf den Arm. »Schau doch mal nach draußen.« Sie führte ihn zum mittleren der drei Fenster an der Straßenfront und freute sich insgeheim, dass ihr der abermalige Wintereinbruch einen guten Vorwand lieferte, ihn aufzuhalten. »Bei dem Schneegestöber könnt ihr nicht losreiten.«
Schweigend sahen sie hinaus. Die nicht weichen wollende Nacht gewährte nur einem feinen Streifen Licht Einzug am Firmament. Allmählich gewöhnten sich die Augen an die Finsternis, die verschiedenen Grautöne gewannen an Kontur. Dunkel dräuten die Wolken, schoben sich zu gewaltigen Ungetümen zusammen. In den engen Straßen blieb es düster. Kaum waren die Umrisse auf der gegenüberliegenden Straßenseite auszumachen. Langsam schälte sich die Mehlwaage aus dem Dunst, dahinter gewann das Haus Fürsteneck an Gestalt. Hie und da blitzte ein schwaches Licht auf, ein zaghaftes Zeichen, dass der Alltag der Menschen trotz des unwirtlichen Wetters begann.
Schauerlich heulte der Wind durch die Gassen. Es klang, als wollte er es mit einem guten Dutzend Klageweiber gleichzeitig aufnehmen. Bald jagte er die Schneeflocken als dichten, undurchdringlichen Brodem durch die Luft.
»Weit werdet ihr unter diesen Umständen nicht kommen.« Magdalena verstärkte den Druck auf Erics Arm. »Ihr müsst die Reise um einige Tage verschieben.«
»Nichts wird verschoben!«, brauste Eric auf. »Du hast doch gehört: Diehl, Imhof und Feuchtgruber wollen endlich fort. Daran ändert auch der neuerliche Wintereinbruch nichts.«
Eine Spur zu barsch befreite er sich aus ihrem Griff. Sie zuckte zurück. Er biss sich auf die Lippen, senkte kurz den Blick und schnaufte hörbar. »Verzeih«, fuhr er ruhiger fort, als er den Kopf wieder hob. »Es rührt mich, dass du dir Sorgen machst. Aber es ändert nichts an meinem Entschluss. Seit Montag schon schieben wir die Abreise aus den verschiedensten Gründen auf. Mal war die Reiseausstattung von einem der Herren nicht fertig, mal fehlten einem anderen noch wichtige Unterlagen oder gar die Nachricht von Geschäftsfreunden, die wir unterwegs aufsuchen wollen. Heute ist Freitag. Einen weiteren Tag können wir nicht mehr warten. Wenn noch mal etwas dazwischenkommt, treffen wir nicht mehr rechtzeitig zum Beginn der Handelssaison in Italien ein. Dann bestimmen andere die Preise, und das ist schlecht für uns.« Er hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel und wollte wieder zu seinem Pult.
»Sei nicht so stur!«, rief sie ihm nach. »Auf ein paar Tage hin oder her kommt es doch nicht an. Wenn das Wetter schon bei uns verrückt spielt, wie
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