Hexengold
Hufgeklapper über das Pflaster. Auch das Knarren der Wagenräder war kaum zu hören. Die Kälte tat ein Übriges, das Leben draußen nahezu vollständig zum Erliegen zu bringen. Sogar die Schwalben, die vor einigen Tagen noch übermütig den Frühling verkündet hatten, hatten sich in ihre Schlupfwinkel verkrochen.
Adelaide war es nur recht, allein in den Straßen unterwegs zu sein. Dick eingepackt in Heuke, Schal und Tuch kämpfte sie sich wie jeden Tag durch den schweren Schnee zum Friedhof. Auf Mathias’ Begleitung verzichtete sie dieses Mal. Jeden Tag schien ihr der Junge ein Stück weiter zu entgleiten. Ihn an Vinzents Grab neben sich zu haben, ertrug sie nicht mehr.
Eisiger Wind biss ihr in die Wangen. Der Frost trieb ihr die Tränen in die Augen. Wenn sie nur einmal am Grab so weinen könnte! Tief grub sie das Gesicht in den hochgeschlagenen Umhang und stapfte weiter. Bei jedem Schritt versanken die Lederstiefel tiefer im Schnee. Nach wenigen Schritten schon durchdrang die Nässe Leder und Strümpfe. Binnen kürzester Zeit waren ihre Zehen steif gefroren. Hätte sie doch Patten angezogen.
Sie erreichte Sankt Peter. Lediglich die schief aufragenden Kreuze oder Steine markierten die unterschiedlichen Gräber. Dazwischen erstreckte sich die weiße Schneedecke jungfräulich unberührt. Mit gesenktem Kopf verharrte Adelaide vor Vinzents Ruhestätte.
Erics Aufbruch hatte alte Wunden aufgerissen. Mit einem Mal fühlte sie sich schrecklich einsam. Kaum ein halbes Jahr nach dem furchtbaren Tod ihres Gemahls hatte Eric bereits neue Gefährten für die Fortsetzung seiner Handelsreisen gefunden. Auch die Zunftgenossen schienen sich nur ungern an Vinzent zu erinnern. Selbst Mathias scherte sich kaum noch darum, sich den Wünschen des verstorbenen Vaters gemäß zu verhalten. Für die anderen ging das Leben weiter, als hätte es ihn nie gegeben. Was aber wurde aus ihr? Auf die verständnisvolle Fürsorge der anderen konnte sie nicht mehr lange setzen. Wenn kein Wunder geschah, galt sie bald schon als ein lästiges Anhängsel, aus dem Leben der Mitmenschen verbannt, als wäre sie nie ein Teil davon gewesen. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange. Der beißend kalte Wind riss sie von der Haut. Schon sah sie sich am Rand der Stadt in einer zugigen Unterkunft versauern.
Vinzent hatte es gut. Dem konnte das alles gleichgültig sein. Dabei trug er die Schuld an ihrem Elend. Je länger er tot war, desto mehr wurde ihr das bewusst. Schamlos hatte er sie belogen. Dabei hatte sie ihn zeitlebens für viel zu ungeschickt zum Lügen gehalten. Sie schnaubte. Ein solch schlimmer Fehler durfte ihr nie wieder unterlaufen. Nie wieder wollte sie sich derart in jemandem täuschen. Entschlossen reckte sie das Kinn und verließ das Grab. Von nun an war das Leben mit Vinzent Vergangenheit, für immer und ewig vorbei. Nichts sollte sie mehr daran erinnern. Ein letztes Mal noch wollte sie das alte Haus ansehen oder zumindest das, was davon übrig geblieben war. Danach war dieses Kapitel abgeschlossen und sie bereit für ein neues, besseres Leben.
Auf dem langen Weg in den Westteil der Stadt blieben die Gassen menschenleer. Nicht einmal auf dem Römer hatten die Händler ihre Buden geöffnet. Wie im Traum lief Adelaide die vertraute Strecke und erreichte bald das halb abgerissene Gebäude. Die Schneeschicht auf den Mauerresten unterstrich das trostlose Aussehen der Ruine. Erschrocken starrte sie auf den Schuttberg vor dem Eingang. Kaum zu glauben, dass dies noch vor wenigen Monaten ihr Zuhause gewesen war. Sie machte zwei Schritte darauf zu, verharrte dann jedoch.
»Ein furchtbarer Anblick.« Warm spürte sie den Atem des Sprechers im Nacken. Sie erstarrte. »Oh, verzeiht, werte Steinackerin, ich wollte Euch nicht erschrecken.« Der Fremde stellte sich vor sie, nahm trotz des dichten Schneefalls den schwarzen Spitzhut vom Kopf und verbeugte sich. Als er sich aufrichtete, blickte sie in das bartlose Antlitz eines hageren Mannes.
»Mit wem habe ich die Ehre?«, fragte sie.
»Griesebeck ist mein Name. Ich bin Kontorist beim ehrwürdigen Kaufmann Feuchtgruber und bitte um Entschuldigung, Euch mitten auf der Straße anzusprechen.«
»Was gibt es? Es ist kalt, und ich möchte nach Hause.« Schon schlang sie die Zipfel der Heuke enger vor der Brust zusammen.
»Nun, es geht um die Abreise des ehrenwerten Kaufmanns Grohnert am gestrigen Freitag.« Griesebeck knetete an seiner Hutkrempe.
»Was ist damit?« Sie streckte den Rücken durch
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